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Zeit und Vermächtnis

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Am 11. August dieses Jahres sind es fünfhundert Jahre her, daß Nikolaus von Kues als Kardinal und Generalvikar der Kirche zu Todi in Umbrien die Augen schloß. Wenn aus diesem Anlaß sowohl in seinem Heimatort Kues an der Mosel, als auch in seiner Bischofsstadt Brixen Feierlichkeiten und Kongresse stattfinden — in Kues vom 8. bis 12. August, in Brixen vom 6. bis 10. September —, so ist das nicht nur ein Ausdruck der Pietät und die Würdigung seiner historischen Verdienste, sondern vor allem ein Zeichen für die zeitlos — und damit auch gegenwartsgültige Bedeutung seines Denkens, das ebenso in sich selbst wie auch in der Ausrichtung seines Handelns Gestalt gewonnen hat.

Denker der Zeitenwende

In den Kompendien der Philosophiegeschichte ist es beliebt, Nikolaus von Kues als Denker der Zeitenwende darzustellen. Dies mag für eine historisch-positivistische Betrachtungsweise zutreffen. Versteht man jedoch die menschliche Geschichte ihrem Wesen gemäß als Kultur- und Geistesgeschichte, so erscheint der Cusaner sogleich in anderem Licht. Er tritt uns dort entgegen, wo er selbst, der Denker der „Docta ignorantia” (Wissende Unwissenheit) und der „Coincidentia oppositorum” (Zusammenfall der Gegensätze), den Menschen sah, nämlich im Horizont von Zeit und Dauer. „Denn”, so führt er in der „Venatio sapientiae” („Die Jagd nach der Weisheit”, 1463) aus, „die höchste Weisheit gab dem Menschen als Verbindung des Universums und als Mikrokosmos im Höchsten der sinnlichen und im Untersten der geistigen Natur seinen Platz, indem sie in ihm, wie in einer Mitte, das niedere Zeitliche und höhere Immerwährende verband. Sie stellte ihn in den Horizont von Zeit und Dauer, wie es die Ordnung der Vollkommenheit verlangte” (Nik. v. Kues, Phil.-theol. Schriften, hrsg. von L. Gabriel, Bd. I, Wien 1964, p. 149). Mit diesem aus der menschlichen Totalität heraus abgeleiteten Gedanken nimmt der Cusaner — so möchte es scheinen — einen anthropologisch-pragmatischen Standpunkt ein. Dies ist jedoch nur scheinbar der Fall. Denn wie er schon in seinem philosophischen Erstwerk „De docta ignorantia” gezeigt hat (Schriften I, p. 195 ff.), bedeutet das denkende Begreifen in und aus der Totalität des menschlichen Wesens zugleich auch, daß das Denken sich selbst erfassen und sich so der Wahrheit und dem unendlichen Gott gegenüber systematisch verwirklichen kann. Indem das Praktisch-Konkrete stets als das Konkrete des Allgemeinen und das Allgemeine stets im Hinblick auf das im Augenblick gegebene Einzelne und Konkrete gesehen wird, kommt jener Horizont zum Vorschein, der Maß und Wahrhaftigkeit menschlichen Handelns ermöglicht und auch gewährleistet. „Denn würde man das Unendliche nicht im Hinblick auf das Endliche betrachten, so würde man weder das Endliche noch dessen Wahrheit und Maß begreifen” (Complementum theologicum, Opera, Paris 1514, II/2, fol. 94). Wenn darum der Mensch seinem Wesen nach im „Horizont von Zeit und Dauer” begriffen wird, so ist damit auf der Höhe methodisch erarbeiteter, philosophischer Aussage zugleich auch der schlichte Anfang gläubiger Existenz integriert, die sich im Leben nach dem Gewissen als unverlierbarer Ursprung der Wahrheit erweist.

Daß in diesem wahrlich unauslot- baren Ansatz und System des Denkens viele Motive neuzeitlicher Philosophie mitgedacht sind, braucht nicht eigens gesagt zu werden. Wesentlich ist vielmehr, daß darüber hinaus jener Zusammenhang gesehen ist, durch den es möglich wird, nicht nur in weltweitem Frieden menschlich miteinander zu leben, sondern auch in der Wahrheit aus der „Einheit des Mannigfaltigen” sinnvoll die Dauer im Zeitlichen erstreben. Was damit gemeint ist, zeigt uns in eindrucksvoller Weise Leben und Wirken des Kardinals, das, aus der Sicht der Epoche betrachtet, zwar gescheitert, aus der Perspektive seines Denkens gesehen jedoch den inneren Sinn und die bleibende Geschichtsmächtigkeit offenbart.

Auf dem Konzil zu Basel

Nikolaus von Kues wurde 1401 als Sohn des Moselschiffers Johannes Krebs geboren. Nach einer Grundausbildung bei den „Brüdern vom gemeinsamen Leben” in Deventer und nach einem universal orientierten Studium in Heidelberg und Padua, das Cusanus 1423 mit dem Doctor decretorum abschloß, studierte er in Köln Theologie und wurde 1430 nach Empfang der Priesterweihe Dekan von St. Florian in Koblenz. Die Möglichkeit, die in ihm schlummernden Fähigkeiten zu entfalten, erhielt er auf dem Konzil zu Basel, zu dem er 1431 in Rechtssachen des neugewählten Trierer Erzbischofs entsandt wurde. Dies zeigte sich zunächst in seinem Beitrag für das Verständnis der Böhmischen Kirche und deren Eigenarten, ist jedoch greifbarer in dem 1433 verfaßten Werk „De concordantia catholica”, das als theologische Orientierung der Konzilsarbeit gedacht war.

Ausgehend vom eigentlichen Wesen der Kirche als Corpus Christi mysti- cum, entwirft Cusanus hier ein Bild von Kirche und Reich, das in der Berufung auf die Tradition sich in jener Freiheit des Gedankens darstellt, die vom Blick auf das Ganze ermöglicht wird. Das Ganze und die Wahrheit der Kirche ist Christus, das Einzelne an ihr ist Repräsentation durch den einzelnen beziehungsweise durch einzelne. Weil Repräsentation immer nur im Hinblick auf das in ihr präsente Wesen möglich ist, kann sich das stufenweise Repräsentierte nicht in dialektischem Gegensatz zueinander verhalten, sondern muß sich notwendigerweise als Einheit des Mannigfaltigen ergänzen. Ebenso gibt auch nicht der Wille des einzelnen oder „die geometrische Zahl” den Maßstab für die Wahrheit ab, sondern nur der Consensus, das Zusammenstimmen gemäß der „graduatio repraesenta- tionis”.

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