Ausgesondert in den Tod

19451960198020002020

Ein blinder Fleck der Zeitgeschichte: Die Massenmorde an sowjetischen Kriegsgefangenen.

19451960198020002020

Ein blinder Fleck der Zeitgeschichte: Die Massenmorde an sowjetischen Kriegsgefangenen.

Werbung
Werbung
Werbung

Der Kommunist ist vorher kein Kamerad und nachher kein Kamerad. Es handelt sich um einen Vernichtungskampf" erklärte Hitler im März 1941. Von 5,6 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen in Deutschland fiel mehr als die Hälfte dem proklamierten "Kampf zweier Weltanschauungen" zum Opfer, durch Hunger, Krankheit oder glatten Mord. Nun liegt eine vom deutschen Historiker Reinhard Otto minutiös erarbeitete Studie vor, in der ein von Wissenschaft und Öffentlichkeit lange ignoriertes Großverbrechen des NS-Regimes aufgerollt wird. Otto rekonstruiert die systematische Ausrottungspolitik gegenüber den sowjetischen Kriegsgefangenen. Erstmals wird in aller Deutlichkeit herausgearbeitet, in welcher Form, mit welcher Intensität und mit welcher erbarmungslosen Konsequenz auch innerhalb der alten Reichsgrenzen der Weltanschauungskrieg weitergeführt wurde.

Als pseudojuristische Grundlage für die als "Sonderbehandlung" umschriebene Liquidierung von Juden, Kommunisten oder Angehörigen der sowjetischen Intelligenz dienten die Einsatzbefehle Nr. 8 und 9. Beide wurden vom Reichsicherheitshauptamt in enger Abstimmung mit dem Oberkommando der Wehrmacht (OKW) noch im Juli 1941 erlassen. Demnach hatten Einsatzkommandos der Gestapo sämtliche des Bolschewismus "verdächtigen" Gefangenen aus den Lagern herauszusuchen und zur Exekution ins nächste Konzentrationslager zu überstellen. Diesem Mordprogramm fielen bis Sommer 1942 mindestens 38.000 Soldaten der Roten Armee zum Opfer. Neben der Beteiligung von Gestapo und Wehrmacht an der systematischen "Aussonderung" sowjetischer Soldaten thematisiert Otto auch den Konflikt von wirtschaftlichen Zwängen und weltanschaulichen Wahnideen.

Schließlich forderte die Lage an der Ostfront immer mehr Einberufungen und verstärkte Rüstungsanstrengungen, so dass an einem möglichst schnellen Arbeitseinsatz der Kriegsgefangenen bald kein Weg mehr vorbeiführte. Auf der anderen Seite witterte man im "bolschewistischen Bazillus", den man im Osten zu vernichten entschlossen war, eine konkrete Gefahr für die einheimische Bevölkerung. Einzig unter der Voraussetzung, dass die fortan ins Reich kommenden Gefangenen als "gesäubert" gelten konnten, war die allgemeine Freigabe des "Russeneinsatzes" Ende Oktober 1941 zulässig.

Für die Studie stand der bis in die neunziger Jahre verschollene Aktenbestand der ehemaligen Wehrmachtsauskunftstelle des OKW zur Verfügung. Teile davon befinden sich im Archiv des Verteidigungsministeriums der Russischen Föderation bei Moskau. Mit Hilfe der verschiedenen Karteien lassen sich nicht nur in Massengräbern beigesetzte sowjetische Kriegsgefangene ihrer Anonymität entreißen; die Karten geben zudem Auskunft über Flucht und Fluchtversuche, Bestrafungen, Arbeitseinsätze oder Familienverhältnisse der verstorbenen Gefangenen. Vor allem dokumentieren sie aber die "Aussonderungen": Karteikarten sind mit dem Stempel "überwiesen an Gestapo" versehen, Erkennungsmarken-Verzeichnisse vermerken lapidar: "EinsatzKdo SS". Verweise auf einen in allen Einzelheiten geplanten, vieltausendfachen Mord an wehrlosen Kriegsgefangenen, welche allein aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe unter ideologischen Aspekten als "Spreu vom Weizen" getrennt wurden. Das in erster Linie an ein Fachpublikum gerichtete Buch ist zwar streckenweise etwas unübersichtlich, entschädigt dafür aber durch konkrete Fallbeispiele. Es schließt auf jeden Fall einen der vielen weißen Flecken in der Geschichte der Kriegsgefangenen im Dritten Reich.

Wehrmacht, Gestapo und sowjetische Kriegsgefangene im deutschen Reichsgebiet 1941/42 Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Band 77 Von Reinhard Otto, R. Oldenbourg Verlag, München 2000, 289 Seiten, brosch., öS 292,-/e 21,22

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung