6714264-1964_35_07.jpg
Digital In Arbeit

Der Tito Asiens?

Werbung
Werbung
Werbung

Die jüngsten Ereignisse in und um Vietnam haben die Aufmerksamkeit der Welt wieder einmal auf das kommunistische Nordvietnam und seinen Chef Ho Chi Minh gelenkt. Im Zeitalter des kommunistischen Pluralismus und des großen Schismas im Reiche derer, die sich zum Marxismus-Leninismus bekennen, interessiert dabei zunächst vor allem die Frage: Welche der verschiedenen Spielarten des modernen Kommunismus wird in Nord Vietnam praktiziert, und wo steht das Land in der harten Auseinandersetzung zwischen dem roten Bären und dem gelben Drachen?

Diese Frage reduziert sich zunächst auf die Frage nach Person und Herkommen des starken Mannes in Nordvietnam, Ho Chi Minhs. Der heute 74jährige, der sich den seltsamen Kampfnamen „Der Weisegewordene” zugelegt hat, war und ist keineswegs, wie es dieses Pseudonym vermuten lassen könnte, vor allem ein Theoretiker des Kommunismus. Zwar spricht man gelegentlich von einem „Hochiminis- mus” als einer den Besonderheiten Vietnams angepaßten Variante des Marxismus-Leninismus, doch ist Ho Chi Minh nicht durch originelle theoretische Werke hervorgetreten, sondern er hat seine Theorie zunächst bei Stalin und dann immer mehr bei Mao bezogen. Denn Ho Chi Minh ist primär ein Praktiker des Kommunismus, und das heißt ein Revolutionär.

In seiner Jugend ist Ho Chi Minh, der einer Mandarinen-Familie entstammt, ziemlich in der Welt herumgekommen. Er war in Deutschland, in England, in Amerika und einige Zeit in Paris, wo seine Wandlung zum Marxisten und Kommunisten erfolgte. Er spielte bald im Weltkommunismus — und auch in der Komintern — eine größere Rolle, gründete 1930 die Kommunistische Partei Indochinas und war oft in Moskau zu sehen. Bedeutsam für unsere heutige Frage nach seinem Standort:’ Ho ChF Minh Hähtfi’ÖÜcH an der revolutionären Bewegung der chinesischen Kommunisten teil und soll seit jenen Tagen mit Mao befreundet sein.

Doch entscheidend war zunächst: Ho Chi Minh war wie Tito und wie Mao aus eigener Kraft an die Macht gelangt, hatte seine kommunistische Revolution ohne die Hilfe sowjetischer Bajonette durchgeführt. Das verlieh ihm unter Kommunisten ein besonderes Prestige, und die Tatsache, daß die Chinesen als altes Herrenvolk in Vietnam keineswegs beliebt sind und Ho Chi Minh sich betont „national” gebärdete, ließ bald einmal das Wort vom „Tito Asiens” aufkommen, der sich trotz seiner persönlichen Verbindung mit Mao den Chinesen gegenüber ebenso werde behaupten wollen und können, wie es Tito den Russen gegenüber getan hatte.

Manches spricht in der Tat dafür, daß Ho Chi Minh eine solche Tito-Rolle nicht ungern gespielt hätte. Aber die Voraussetzung, um sie spielen zu können, fehlte: die ökonomische Selbständigkeit. Das Land war nicht industrialisiert, besitzt keine Bodenschätze und ist auf die Reisfelder in Südvietnam angewiesen. Es konnte ohne ausländische Hilfe weder ein Industrialisierungsprogramm — der Hauptehrgeiz jedes kommunistischen Staates — verwirklichen noch überhaupt existieren. Zwar war auch die ökonomische Basis Titos bedenklich schmal — aber Tito fand nichts daran, beim kapitalistischen Westen um Hilfe anzusuchen, die ihm bekanntlich auch reichlich gewährt wurde.

Eine verpaßte Chance der USA

Es wird einer späteren Geschichtsschreibung Vorbehalten sein, herauszufinden, ob nicht auch Ho Chi Minh bereit gewesen wäre, westliche Hilfe zu akzeptieren — wenn man sie ihm angeboten hätte. Ausgeschlossen ist es keineswegs. Aber die USA glaubten damals, die Rolle der zum Aus zug gezwungenen Franzosen übernehmen und in Südvietnam ein Marionettenregime errichten zu müssen, das sich bis heute nur dank der amerikanischen Stützung halten kann und die Freiheit, die dort angeblich verteidigt wird, auf eine reichlich surrealistische Art repräsentiert. Ob Ho Chi Minh von Anfang an darauf aus war, die Revolution auch nach Südvietnam — das übrigens zu einem großen Teil vor der in Genf ausgesprochenen Teilung des Landes bereits in kommunistischen Händen war! — hineinzutragen und sich die Reisfelder gewaltsam zu holen oder ob er dazu wesentlich durch die Politik der USA veranlaßt wurde, ist heute noch nicht auszumachen. Nur eines ist sicher: Man hat vom Westen aus keinen Versuch unternommen, seinen potentiellen Titoismus durch wirtschaftliche Hilfsangebote gewissermaßen einer Wahrheitsprobe zu un terziehen. Die USA haben das Genfer Indochinaabkommen nicht unterzeichnet und sich dadurch die Hände freibehalten zu der Politik, die sie seither dort befolgten und deren Gefangener sie nun sind.

Hilfe von beiden Seiten nötig.

Die Politik des nordvietnamesischen Kommunistenchefs Ho Chi Minh war seit Beginn der Auseinandersetzung zwischen Moskau und Peking gekennzeichnet durch ein geradezu missionarisches Bemühen, die verfeindeten Brüder wieder zu versöhnen. Zwar hatte Ho Chi Minh, der sich schon im Revolutionskrieg wesentlich von chinesischen Theorien hatte inspirieren lassen, seinen Staat nach Pekinger Muster aufgebaut, aber das mag mehr ethnographisch-geographisch-soziologische als politische Gründe haben und bedeutet an sich noch kein Bekenntnis auch zu jenem Peking, das heute Moskau der Häresie bezichtigt. Ganz abgesehen davon, daß Ho Chi Minh die ökonomische Basis für den „Aufbau des Sozialismus” zu sichern hatte.

Diese ökonomische Basis jedoch konnte das selbst mit größten ökonomischen Schwierigkeiten kämpfende China nicht liefern. Da auch der Westen — aus was für Gründen auch immer — als Hilfsquelle nicht in Frage kam, blieb als einzige Möglichkeit die Hilfe der Sowjetunion und der osteuropäischen Staaten. Allein diese ökonomische Notwendigkeit hätte Ho Chi Minh gehindert, völlig ins chinesische Lager einzuschwenken. So schloß er zwar 1955 mit China einen Beistandspakt, der auch wirtschaftlich einiges abwarf, aber die Lieferungen der Sowjetunion waren — zumindest bis vor kurzem — ganz beträchtlich höher als diejenigen Chinas. Und auf diese Lieferungen war Ho Chi Minh um so mehr angewiesen, als nicht nur die Eroberung der Reisfelder Südvietnams auf sich warten ließ, sondern sein Land in den Jahren 1961 und 1962 auch noch das Opfer schwerer Naturkatastrophen wurde, die sich wirtschaftlich verheerend auswirkten.

Ho Chi Minh hatte also ein wahrhaft vitales Interesse daran, sich die Sympathie Moskaus zu erhalten. Er machte denn auch in den späten fünfziger Jahren eine große Reise durch die Sowjetunion und Osteuropa — die ihn u. a. auch nach Jugoslawien führte —, und der damalige sowjetische Staatschef Woro- schilow wurde in Nordvietnam mit großen Ehren empfangen. Aber gleichzeitig mußte Ho Chi Minh darauf bedacht sein, sich es auch mit Peking nicht zu verderben. Einmal stellt man sich mit allzu mächtigen Nachbarn — Nordvietnam zählt ja bloß rund 14 Millionen Einwohner! — klugerweise immer gut. Aber Ho Chi Minh hat noch ein besonderes Interesse an der Sympathie Pekings: Da Moskau sich seit der Genfer Indochinakonferenz, wo es der Teilung Vietnams zustimmte, nicht willig zeigte, eine revolutionäre Eroberung Südvietnams aktiv und wirksam zu unterstützen, ist Nordvietnam, solange es eine revolutionäre Wiedervereinigungspolitik betreibt, auf die Unterstützung der in diesen Fragen weit weniger zimperlichen Chinesen angewiesen. Das erklärt den ursprünglichen missionarischen Eifer Ho Chi Minhs, Moskau und Peking miteinander zu versöhnen, zur Genüge. 1960, auf der großen Moskauer Konferenz der 81 kommunistischen Parteien spielte Ho Chi Minh als versöhnendes Element eine führende — manche meinen sogar, eine entscheidende — Rolle, und seine Bemühungen um eine Überbrückung der immer unversöhnlicheren Gegensätze innerhalb der roten Weltkirche dauerten bis ins Jahr 1963 hinein. Doch dann gab es Ho Chi Minh plötzlich auf, den Friedensengel zu spielen, und vollzog eine entscheidende Schwenkung — ins Lager Pekings!

Das Geheimnis um die Tonkinbucht

Was der unmittelbare Anlaß für diese plötzliche Schwenkung war, ist heute noch nicht mit Sicherheit festzustellen. Ebensowenig haben sich bisher Gerüchte bestätigt, wonach Moskau „zur Strafe” seine Wirtschaftshilfe an Nordvietnam eingeschränkt habe. Doch wenn man sich das Dilemma vergegenwärtigt, in dem Ho Chi Minh steckte, muß man annehmen, daß er heute die militärische Unterstützung durch China in seinem revolutionären Kampf um die Wiedervereinigung des Landes — und d. h. ökonomisch um die Reisfelder des Südens — als primäre Aufgabe und die Industrialisierung Nordvietnams — wofür er sowjetische Hilfe benötigt — als etwas Sekundäres betrachtet. Die jüngsten Ereignisse in der Tonkinbucht könnten diese Annahme bestätigen, obgleich man ja Grund hat, an der offiziellen amerikanischen Darstellung zu zweifeln, wonach Nordvietnam die Amerikaner bewußt provoziert habe.

Hingegen gibt es eine andere Theorie, die Ho Chi Minhs Betonung des Primats des revolutionären Kampfes zu deuten versucht. Nach dieser Theorie, die wohl nicht zufällig von Paris aus in die Welt gesetzt wurde, soll der maßgebende nordvietnamesische Militär, General Vo Nguyen Giap, den Augenblick als günstig -achten, die in Vietnam in eine böse Sackgasse geratene amerikanische Vietnampolitik, ja sogar die ganze amerikanische Südostasienpolitik so zu bedrängen, daß sie sich schließlich bereit erklärt, sich mit den Kommunisten zusammen an den Konferenztisch zu setzen. Nach dieser Theorie wäre es das Ziel General Giaps, die Amerikaner gewissermaßen durch eine militärische „Politik der Stärke” zu einer diplomatischen Regelung gefügig zu machen. Freilich hätte diese Theorie, falls etwas Wahres daran ist, ihre Rechnung ohne Barry Goldwater und dessen Einfluß auf die amerikanischen Wahlen und damit die Vorwahlpolitik Präsident Johnsons gemacht. Dessen Auftreten in der Tonkinbucht zeugte nicht eben von einem Willen, sich durch eine „Politik der Stärke” an den Verhandlungstisch zwingen zu lassen.

So aber ginge auch die Rechnung Ho Chi Minhs nicht auf, und sein Dilemma, sowohl von Moskau wie von Peking abhängig zu sein, bliebe in alter Bösartigkeit bestehen. Damit aber vielleicht auch eine letzte Chance für den „Westen”, im Sinne etwa der Intentionen de Gaulles, Ho Chi Minh doch noch zu seinem eigenen Titoismus zu verführen. Freilich — die Chance ist mehr als gering und de Gaulle nicht der Mann, sie zu realisieren. Und bis Amerika seinen neuen Präsidenten hat, könnte auch diese Chance, die einmal durchaus ernst zu nehmen war, endgültig verpaßt sein.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung