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„Dicke Schalen abgeschält“

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„Chu-Tich Ho Chi-Minh Muon-nam!“ (Es lebe der Vorsitzende Ho Tschi-minh!) — Dieser Kampfruf war noch vor ein paar Jahren ein wohlbekannter Klang, auch hier in Europa, jenes „Ho, Ho, Ho...!“, das frisch in unserer Erinnerung blieb.

Die Vietkongs haben, wie ein vietnamesisches Sprichwort es bildlich ausdrückt, „die dicken Schalen der Apfelsinen mit ihren spitzen Fingernägeln abgeschält“.

Am 30. April 1975, nach 30 Jahren der Trennung, wurde Vietnam durch die Einnahme Saigons wiedervereinigt, was vom historischen Gesichtspunkt der Entwicklung aus gesehen, eher unvermeidlich war. Die Trennung- von Nord- und Südvietnam ist nur noch provisorisch. Abgesehen davon, ob die Befreiung durch einen Vertragsbruch seitens der Kommunisten geschah und ob uns dies gefällt, bleibt die Tatsache, daß eine neue Ära in Indochina angebrochen ist; für die ganze Welt, einschließlich Europa, tauchen dadurch neue Aspekte auf, die wert sind, analysiert zu werden.

Indochina, der Zankapfel zwischen Moskau und Washington im Fernen Osten, wurde aus dem Weg geräumt. Das mögliche Einbeziehen ganz In-dochinas in das vom Kreml geplante asiatische Sicherheitssystem, könnte in Hinkunft Peking noch mehr isoleren.

Es ist durchaus möglich, daß diese Geschehnisse sogar ins heimliche Konzept des Pentagons für eine Neugestaltung einer globalen Strategie und für die Aufrechterhaltung des Gleichgewichtes hineinpassen, denn seit dem Herbst des Jahres 1971 bauen die USA bereits eine neue Verteidigungslinie mit einer Inselkette fern vom asiatischen Festland auf. Guam als Knotenpunkt, Südkorea, Japan, Okinawa, Formosa, die Philippinen, Indonesien, Australien und Neuseeland als weitere Stützpunkte dieser Linie.

DJakarta zögert bei der Anerkennung des neuen Regimes in Pnom-Penh und Saigon; US-Generalstabschef George Brown inspizierte unlängst die Truppen Indonesiens; Taiwan hilft Indonesien schon seit Jahren bei der militärischen Ausbildung.

Wenn Leute wie Mansfield und,

Fulbright die Beendigung des grausamen Vietnam-Kriegs mit einem Gefühl von Defaitismus, Neoisolatio-nismus, Kriegsmüdigkeit und moralischer Impotenz begrüßt haben, so empfinden die Europäer ebenfalls etwas wie bedrückte Erleichterung, weil sie nicht sicher sind ob die Amerikaner eines Tages das Schicksal Europas nicht auch den Europäern selbst überlassen könnten, wie sie das Schicksal Südvietnams den Südvietnamesen überließen.

Aber die Befreiung Indochinas bedeutet noch nicht, daß die Komplikationen dort zu Ende wären. Von Saigon-Flüchtlingen in Hongkong erfuhr man, daß unter den Angreifern auch 5 Divisionen chinesischer Regulärtruppen zu finden waren, die gelbe Uniform trugen, kantonesisch sprachen und Plakate mit chinesischen Schriftzeichen anbrachten. (Die Nordvietnamesen tragen grüne Uniformen, die Vietkongs schwarze.) Eine neue Konfrontation zwischen Peking und Moskau ist also im Gange. Sowjetische Waffen und ostdeutsche Stahlhelme zeigen, wer Hanoi materiell unterstützt.

Ho Tschi-minh bleibt selbständ-lich ein nationales Idol der Indochi-nesen. Er, wie einst Fidel Castro, war viel eher ein Nationalist, als ein Kommunist. „Die Imperialisten« und Kolonialisten haben ihn ins kommunistische Lager getrieben“ — eine solche Formulierung wäre durchaus nicht falsch.

Ho Tschi-minh plante seit 1945 eine indochinesische (Kon)fördera-tion unter der Führung Hanois. Der Slogan „Viet Mien Lao Doan Kiet“ (Vereinigung Vietnams, Kambodschas und Laos') bezeichnet bis heute das Endziel.

Außer den oben erwähnten Gegensätzen schaffen die ideologischen Konflikte und hegemonistischen Machtkämpfe zwischen Moskau und Peking seit Chruschtschow neue Komplikationen. Wie bekannt, gibt es innerhalb der Hanoier Führung prosowjetische und prochinesische Flügel, jeweils unter Le Duan und Trong Chinh.

Der nördliche Nachbar Vietnams, China, hat seit 1945 zweimal die Flaggen gewechselt und dies wirkt sich auch auf Vietnam aus. Washington hatte nach der Machtergreifung Ho Tschi-minhs gehofft, daß er zum Tito Ostasiens werden könnte. Diese Möglichkeit ist bis heute offen geblieben, zumal es zwischen Vietnam und China viele Probleme gibt.

Alle vietnamesischen Regierungen, welche Farbe sie auch haben mochten, betrachten die Paracel- und Spratly-Inseln als vietnamesische Territorien von alters her. Die Einwohner der chinesischen autonomen Region Kwangsi-Tschuaogie und einiger anderer autonomer Bezirke in den südwestchinesischen Provinzen Jünnan und Kweitschow sind in Wirklichkeit nichts anderes als Vietnamesen. Außerdem leben in Indochina fast zwei Millionen Auslandschinesen, die sich nicht assimilieren lassen und die versuchen, die wichtigsten Wirtschaftszweige des Landes zu kontrollieren.

Auf weite Sich kann ein vereinigstes und unabhängiges Indochina unter der Führung Hanois leichter Beziehungen zu Europa und Südostasien aufnehmen, um nicht allzu sehr vom gefürchteten „Großen Bruder“ im Norden abhängig zu sein. Vietnam steht am Scheideweg zwischen „Sozial-Imperialismus“ und „Sozial-Chauvinismus“.

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