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Der erste Dominostein?

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‘Als Ho Chi Minh am 14. Juli vor acht Jahren auf den Champs Elysees in Paris einträchtig Seite an Seite mit dem französischen Außenminister Georges Bidault die Parade abnahm, war er Regierungschef der „Demokratischen Republik von Vietnam" und gefeierter Ehrengast der Französischen Republik. Da man seine Forderung, ein unabhängiges Indochina, jedoch zurückwies, wurde aus der mit höchsten Ehren empfangenen , Exzellenz der geschmähte „Banditenhäupt- ling": Ho Chi Minh stellte sich an die Spitze der aufständischen Vietminh. Der Kolonialkrieg entwickelte sich in acht Jahren zu einem internationalen Konflikt im Rahmen der ost-westlichen Auseinandersetzung. Er fand mit der Unterzeichnung des Waffenstillstandes zwischen Ministerpräsident Mendez- France und den Vietminh am 21. Juli 1954 ein vorläufiges Ende: ein Ende, das für rund 850.000 Katholiken eine Katastrophe und geistige Bankrotterklärung einer laizistischen Kolonialpolitik bedeutet.

Als Ho Chi Minh 1919 auf der Friedenskonferenz von Versailles bei Präsident Wilson für die Freiheit Indochinas eintrat — hatte man den Völkern nicht Selbstbestimmung versprochen!? — war er ein junger, hagerer Mann von 28 Jahren und vom Leben in eine harte Schule genommen. Eigentlich hieß er Nguyen Tat Thanh und stammte aus einem Vietnam-Geschlecht, das beim Kaiser von Annam in Ungnade gefallen war. 1911 hatte der Zwanzigjährige seine Heimat verlassen müssen und war nach Amerika, London und Paris gegangen, wo er sich zeitweise als Koch und Photographengehilfe durchschlug.

Ho Chi Minh „Der das Licht bringt", wie sich Nguyen Tat Thanh nun nannte, erhielt in Versailles einen abschlägigen Bescheid. Die Friedensmaoher sahen sich damals, nicht zum Glücke der Welt, vor der Erreichung anderer Ziele. Damals schloß sich Ho Chi Minh mit dem chinesischen Mandarinsohn Tschu En Lai den Kommunisten an. Seine Lehr- und Wanderjahre machte der künftige Kommunistenführer Indochinas in Moskau und als reisender Geheimagent durch halb Asien. Sein „Gesellenstück" wurde der geheime Auf- und Ausbau der kommunistischen Partei in Indochina.

Im zweiten Weltkrieg wurde Indochina, das größer ist als England und Frankreich zusammen, von japanischen Truppen überrannt. Hinterindien sollte der südwestliche Eckpfeiler eines von Japan geführten Groß- asien werden. Gleichzeitig erkannte Ho Chi Minh, daß ein Land an den Hauptadern des Weltverkehrs, in dem sich die Kulturen und Religionen Indiens, Chinas und Indonesiens begegnen, hervorragend geeignet ist, das Strahlungszentrum des Weltkommunismus in Südostasien zu werden.

Mit der Besetzung Indochinas durch die Japaner im zweiten Weltkrieg begann der rote Weizen zu blühen. Ho Chi Minh organisierte den inneren Widerstand und rief zum nationalen Aufstand gegen die Eindringlinge auf. Seine Organisation Vietminh „Freier Süden" wurde das Sammelbecken aller Freunde der nationalen Unabhängigkeit. Die Kommunisten bildeten damals nur eine von vielen Gruppen innerhalb einer weitgesteckten Koalition von Parteien und Religionsgemeinschaften. Unauffällig bä Uten sie, als Nationalisten getarnt, ihre Position aus.

Als Japan 1945 kapitulierte, stürzte Ho Chi Minh den jungen Kaiser Bao Dai von Annam, proklamierte in Hanoi die „Demo-kratische Republik Vietnam’’ und wurde ihr erster Ministerpräsident. Die neue Republik wurde von den Franzosen anerkannt. Frankreich mußte einsehen, daß der Kolonialstatus nicht länger zu halten war, und erklärte Indochina Vietnam, Kambodscha, Laos am 30. März 1945 zum selbständigen Bundesstaat und zum Mitglied der Französischen Union. Aber Ho Chi Minh forderte mehr und suchte mit den Waffen seiner „nationalen" Vietminh-Koalition zu erzwingen, was man ihm auf dem Verhandlungswege verweigerte. Er wurde rum Rebellen. 1949 griff Frankreich auf den gestürzten Kaiser von Annam, Bao Dai, zurück, ernannte ihn zum Regierungschef und stellte französisches Militär hinter seine Regierung.

Ho Chi Minh, der erklärt hatte, er wolle sich gern vor Bao Dai und jedem anderen, der imstande sei, die Einheit und Unabhängigkeit Vietnams durchzusetzen, als Reisbauer in sein Dorf zurückziehen, blieb, und es gab zwei Regierungen im Lande. Amerika und England anerkannten Bao Dai, Rußland und China Ho Chi Minh.

Das vietnamesische Volk stand damals in seiner Mehrheit hinter Ho Chi Minh, dem Vorkämpfer der nationalen Unabhängigkeit. Seine Klugheit und Zähigkeit, die großzügige Errichtung von Schulen und die überzeugende Steigerung der Wirtschaftserträge in seinen Gebieten imponierten und hoben sich vorteilhaft ab von der zweifelhaften Stellung des jungen, in Paris erzogenen Bao Dai, den das Volk von einer ausländischen Macht abhängig und von einer Günstlingsclique und ausländischen Spekulanten umgeben glaubte. Selbst die Katholiken glaubten, ich an der Regierung Bad Dais nicht beteiligen zu können. Der einheimische Bischof Ngo Dinh Thüc von Vinhlong erklärte, das „Uebereinkommen“ Frankreichs mit Bao Dai sei vom vietnamesischen Volke niemals angenommen worden, weil es darin eine Fortführung des Kolonialsystems, wenn auch in gemäßigter Form, erblickte. Ho Chi Minh hielt alle Trümpfe in seiner Hand. Sein wahres Gesicht aber war für den einfachen Mann nicht zu enträtseln.

Es gab eine Zeit, da Ho Chi Minh offen um amerikanische Hilfe warb und erklärte, seine Armee würde jeden Eindringling in Indochina niederschlagen, die chinesischkommunistische Freiheitsarmee inbegriffen. Auch die demonstrative Anerkennung des Tito-Regimes nach dessen Bruch mit Moskau im Jahre 1948 konnte über seine wahren Ziele täuschen. Der nationale Nimbus tarnte Ho Chi Minh derart, daß selbst nach der Anerkennung der Regierung Bao Dais durch den Heiligen Stuhl zahlreiche Katholiken noch auf seiner Seite blieben.

In dem Maße, als Ho Chi Minh durch die materielle Abhängigkeit von Moskau und Peking gezwungen war, seine Maske fallen zu lassen, sich als Vorkämpfer des Weltkommunismus entpuppte und die Gewalttaten der Vietminh gegen Kirche und Christen sich mehrten, gingen manchen Christen und auch anderen die Augen auf. Die Katholiken gerieten in einen drückenden Gewissenskonflikt: ihr sehnlichstes Ziel, die Unabhängigkeit Vietnams, schien nur durch Ho Chi Minh erreichbar und damit an den Kommunismus gekettet zu sein; eine christliche Zukunft war nur mit Bao Dai zu erhoffen, aber in Abhängigkeit von einer fremden Kolonialmacht.

Das Peinigendste war die Unklarheit und Undurchsichtigkeit der Verhältnisse. Von den Vietminh wurden die Katholiken des Vaterlandsverrates bezichtigt und von den Franzosen wurden sie beschuldigt, ihren Kampf gegen den Kommunismus zu sabotieren. Die Mehrzahl rang sich schließlich zur Anerkennung Bao Dais durch, während eine Minderheit den Franzosen, auf die Bao Dai sich stützen mußte, noch weniger traute als den kommunistischen Chinesen, auf die Ho Chi Minh baute und deshalb mit den Vietminh sympathisierte. Als geschlossener Block hätten die zwei Millionen Katholiken Indochinas vielleicht den entscheidenden geistigen Kern der Abwehrfront bilden können. Gewiß, die verschlagene Tarnung der Kommunisten als nationale Bewegung hätte das Zustandekommen einer einmütigen Abwehrfront äußerst erschwert, doch wäre sie spätestens nach der Entlarvung Ho Chi Minhs noch möglich gewesen, hätte nicht eine christlichen Grundsätzen widersprechende Kolonialpolitik das Vertrauen der Katholiken Indochinas aufs schwerste erschüttert und sie „zwischen Hammer und Amboß" gebracht. Das zersplitterte ihre Kräfte und ließ sie obendrein beiden Fronten als „Verräter" erscheinen.

Die 400jährige Missionsgeschichte Indochinas sah grausamste Ghristenverfiolgungen. Die letzte führte 1861 zur Besetzung des Landes durch Frankreich. Die französische Kolonisation ist von den Missionären angeregt und unterstützt worden, was heute als belastendes Erbe für die Kirche Indochinas wirkt. Mission und Kolonialmacht wurden in der Hetzkampagne gegen Frankreich nur zu oft gleichgesetzt. Gewiß, bevor die Franzosen kamen, war Indochina Schauplatz ständiger Bürgerkriege. Die straffe Hand einer europäischen Ordnungsmaoht schien für die gedeihliche Entwicklung des Landes wie der Christianisierung unerläßlich. Und es muß zugegeben werden: die Zeit der französischen Herrschaft bedeutete 60 Jahre Ordnung, Sicherheit und Freiheit, unerläßliche Bedingungen für den Fortschritt der jungen Missionskirche. Ohne sie gäbe es heute unter 25 Millionen Indochinesen keine 2 Millionen Katholiken und keine 150 0 einheimische Priester, die für die tiefe Einwurzelung des Glaubens zeugen. In allen Missionsgebieten der Welt gibt es nur 8000! Aber wäre die verhängnisvolle Lage der Katholiken heute zwischen „Hammer und Amboß1’ möglich gewesen, wenn die Kolonialmacht überzeugend für das Christentum und seine Grundsätze von Recht und Freiheit eingetreten wäre?

Leider trifft es zu, wenn das Londoner „Tablet" schreibt: „In all den Jahren der dritten Republik wurde die Kirche in Indochina genau so behandelt wie in Frankreich, d. h. mit antiklerikaler Verächtlichkeit." Den Missionsschulen blieb Förderung und materielle Unterstützung versagt. Heute macht sich das Fehlen eines ausgebauten katholischen Schulsystems verhängnisvoll geltend, und zwar um so mehr, als die zwar tiefe und ausdrucksreiche Frömmigkeit der indochinesischen Katholiken nicht frei ist von einem merklichen Einschlag ins Sentimentale, nicht selten auf Kosten eines gediegenen Glaubenswissens. Die junge Generation Indochinas — inzwischen ist sie in führende Stellung aufgerückt — wurde gemäß dem offiziellen Unterrichtssystem der Kolonialbehörden im Agnostizismus und Materialismus erzogen und bildete in ihrer Haltlosigkeit einen hervorragenden Nährboden für die Ideen der Vietminh. Die überkommenen Ueberzeugungen und die sittlichen Grundsätze wurden zerstört und nichts Neues an ihre Stelle gesetzt.

Ob Daladier daran dachte, als er Anfang Juni im französischen Parlament erklärte, in Indochina seien Fehler auf Fehler begangen worden? Verteidigungsminister Pleven muß ihn anders verstanden habens denn er erklärte, das französische Expeditionskorps in Indochina sei von 52.000 Mann, die es 1945 zählte, auf eine Stärke von 216.000 gebracht worden. Hinzu kämen noch die verbündeten Armeen. An Truppen und . Material habe es in’Indochina nicht gefehlt. — Amerikanische Soldaten in Korea kleideten eine richtige Erkenntnis in die drastischen Worte: „You cannot fight Karl Marx with Coca Cola!" Der Marxismus ist nicht mit den Segnungen moderner Zivilisation und nicht durch Waffengewalt allein zu besiegen. Mit Recht wurde festgestellt, der Kampf in Indochina sei die akute Phase eines nicht nur politischen, sondern vor allem weltanschaulichen Weltproblems.

Eisenhower hat einmal, nach den Konsequenzen eines möglichen Verlustes von Indochina befragt, gesagt, eine Niederlage in Vietnam werde sich in Südostasien etwa so äußern wie der Fall des ersten Steines in einer Dominoreihe, der durch Kettenreaktion alle anderen Steine auch zu Fall bringt. Das Gebiet, von dem die Rede war, umfaßt Indochina, Thailand, Burma, Malaya, Indonesien und die Philippinen. Bischof Raymond A. Lane, der Generalobere der Missionsgesellschaft von Maryknoll, erklärte:

„Wenn Indochina gefallen ist, dann wird Burma, Thailand und Ceylon unmittelbar folgen. Dasselbe Schicksal wird Indien ereilen. Wenn die,Kettenreaktionen’ der kommunistischen Eroberungen nicht abgestoppt werden, kann es sehr wohl geschehen, daß die freie Welt sich in einem Jahr auf Westeuropa und die westliche Hemisphäre beschränken wird."

War der Waffenstillstand mit den Vietminh nicht der „Fall des ersten Dominosteines"?

Militärexperten erklärten, selbst zehn frischen amerikanischen Divisionen würde es schwerfallen, in vier bis fünf Jahren der Lage in Indochina Herr zu werden. Die Vietminh sind nicht mehr 30 Bataillone mit 15.000 Gewehren, sondern eine modern ausgerüstete Armee von 700.000 Mann ! Die indochinesischen Fronten fesselten ein Drittel des französischen Offizierskorps und zwei Fünftel des Unteroffizierskorps. Der indochinesische Krieg wurde ein Aderlaß, den auch eine Großmacht wie Frankreich nicht beliebig fortsetizen konnte. Militärisch ist der Waffenstillstand verständlich. Kolonialpolitiisch und weltanschaulich betrachtet ist er eine Tragödie.

Es ist bitter, daß eine Nation, die einst zum Schutz des Christentums nach Indochina kam, heute 850.000 Katholiken mit einem Federstrich dem atheistischen Kommunismus überantworten muß. Gewiß, der Bevölkerung nördlich des 17. Breitengrades sind „Freiheiten" zugesichert worden. Aber mit Recht zitieren die „Neuen Zürcher Nachrichten" dazu das Wort Börnes: „Der Unterschied zwischen Freiheit und Freiheiten ist ebenso groß wie zwischen Gott und Göttern." — Es ist eine bittere Ironie, daß die Nation, deren materialistische Kolonialpolitik die Katholiken zwischen „Hammer und Amboß“ brachte, sich heute letztlich infolge dieser unchristlichen Politik selbst zwischen „Hammer und Amboß" und zu einem so schmachvollen Vertrag genötigt sieht. Seine Unterzeichnung durch den „laizistischen Mendes-France" muß als konsequenter Schlußstrich unter die Bankrotterklärung einer laizistischen Kolonialpolitik gewertet werden.

Wäre die Kolonialmacht Bringerin des währen Lichtes gewesen, Indochina hätte auf das „Licht" eines Ho Chi Minh verzichtet.

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