7108126-1995_40_06.jpg
Digital In Arbeit

Müssen Kompromisse wirklich immer „faul” sein?

19451960198020002020

Klagen über unsere mangelhafte politische Kultur nehmen zu. Sofern Kommunikation im politischen Bereich überhaupt stattfindet, verläuft sie indirekt über die Medien oder mehr oder weniger untergriffig.

19451960198020002020

Klagen über unsere mangelhafte politische Kultur nehmen zu. Sofern Kommunikation im politischen Bereich überhaupt stattfindet, verläuft sie indirekt über die Medien oder mehr oder weniger untergriffig.

Werbung
Werbung
Werbung

Appelle für eine bessere Streitkultur in Österreich haben bisher wenig bewirkt (offenbar ersetzen Appelle die Durchführung und müssen daher unwirksam bleiben). Und so manche verweisen auf die Jahrzehnte der funktionierenden Sozialpartnerschaft, als die politische Kommunikation noch in Ordnung war. In diesem Zusammenhang fällt auch oft der Hinweis auf die Fähigkeit zum Kompromiß als Zeichen einer positiven politischen Kultur.

Möglicherweise hat aber gerade die Sozialpartnerschaft - neben allen Verdiensten, die nicht in Abrede gestellt werden sollen - die Entwicklung einer Streitkultur verhindert und den Eindruck erweckt, es gäbe nur „faule” Kompromisse als Folge eines „kompromißlerischen Verhaltens”.

Wie negativ belastet der „Kompromiß” ist, zeigte ein „Kurier”-Interview mit Heide Schmidt am 16. Juni 1995: „Aber ich unterscheide Kompromiß und Standfestigkeit. Die Grundsatzfrage ist: Spiele ich Mehr-heitsbeschaffer oder Mitgestalter?”

Und 1983 schrieb der 1994 verstorbene Wiener Tiefenpsychologe Hans Strotzka in der Einleitung zu „Fairneß, Verantwortung, Phantasie. Eine psychoanalytische Alltagsästhetik ”:

„Lange Zeit dachte ich daran, das Wort ,Kompromiß' in den Titel zu nehmen, weil ich der Meinung bin, daß die Fähigkeit, einen konstruktiven Kompromiß zwischen Personen, Gruppen, Tendenzen und auch innerhalb eines Selbst zu entwickeln, eine der wichtigsten Eigenschaften von seelischer und sozialer Gesundheit ist. Die Abwertung des Kompromisses als feig, halbherzig, opportunistisch, scheint mir ein gefährliches Mißverständnis zu sein. Ich verkenne dabei natürlich nicht, daß es Bereiche gibt, wo Kompromisse tatsächlich nicht vertretbar sind. Das starre Beharren auf einem absolut gesetzten Standpunkt kommt aber so oft bei meinen Patienten als Symptom einer Krankheit oder auch bei unlösbar scheinenden internationalen Konflikten oder als Basis fanatischen Terrors vor, daß es mir zweifelsfrei erscheint, daß Kompromisse schließen zu lernen ähnlich wichtig ist wie Ambivalenz überwinden.”

Wird ein Kompromiß nun als faul angesehen, weil tatsächlich jeder Kompromiß faul ist, oder gilt er als faul, weil ein richtiger, also ein guter Kompromiß erreichbar wäre?

Während Überlegungen zum Kompromiß in Philosophie und Beligion (nicht Kirche) in den Hintergrund getreten sind, schwankt die Diskussion um politische Kompromisse bis heute zwischen radikaler Ablehnung und Betonung seiner unbedingten Notwendigkeit.

Interessanterweise hat ein Österreicher, Hans Kelsen, der Autor der österreichischen Verfassung, als erster „Kompromiß” und „Demokratie” miteinander verknüpft. Schon 1920 schrieb er: „Auch die gegenteilige Meinung muß man für möglich halten, wenn man auf die Erkenntnis eines absoluten Wertes verzichtet.... Je stärker aber die Minorität, desto mehr wird die Politik der Demokratie eine Politik der Kompromisse, wie auch für die relativistische Weltanschauung nichts charakteristischer ist als die Tendenz zum vermittelnden Ausgleich zwischen zwei gegensätzlichen Standpunkten, von denen man sich keinen ganz und vorbehaltlos und unter völliger Negation des anderen zu eigen machen kann.”

Ideologien sind nicht kompromißfähig

Im September 1926 fand in Wien der Fünfte Deutsche Soziologentag statt, bei dem Hans Kelsen das zweite Hauptreferat hielt, in dem er wieder auf den Kompromiß zu sprechen kam: „Denn das ganze parlamentarische Verfahren mit seiner... auf Bede und Gegenrede, Argument und Gegenargument abgestellten Technik ist gerichtet auf die Erzielung eines Kompromisses ... Jede arbeitsteilige Differenzierung des staatlichen Organismus, die Übertragung irgendeiner staatlichen Funktion auf ein anderes Organ als das Volk bedeutet notwendig die Einschränkung der Freiheit. Der Parlamentarismus stellt sich somit als ein Kompromiß zwischen der demokratischen Tendenz der Freiheit und dem allen sozialtechnischen Fortschritt bedingenden Grundsatz differenzierender Arbeitsteilung dar.”

Selbstverständlich sind Ideologien - wie alle dogmatischen Positionen -nicht kompromißfähig. Die Frage ist, ob dogmatische Positionen und die parlamentarische Demokratie kompromißfähig sind. Und warum immer häufiger an sich kompromißfähige politische Probleme zu dogmatischen Positionen geworden (oder - wie im Schulbereich - geblieben) sind.

Der Verdacht drängt sich auf, daß die Alltags-Dogmen den Mangel an (echten) Werten und Sachkenntnis kaschieren sollen. Eine sachliche Diskussion mit Bede und Gegenrede, Argument und Gegenargument - die Grundlage für einen guten Kompromiß und eine demokratische politische Kultur - würde die Leere hinter den Alltags-Ideologien rasch entlarven.

Allerdings dürfte es in absehbarer Zeit weiter beim Widerspruch zwischen Kompromiß und Standfestigkeit und bei bestenfalls faulen Kompromissen bleiben.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung