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Der Aufstand der Parias

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Sie ist keine Partei, keine Gewerkschaft, vertritt keine politische Ideologie - und doch ist die brasilianische Landlosenbewegung zur stärksten Oppositionskraft im größten Staat Lateinamerikas geworden. Im April protestierten Tausende in der Hauptstadt Brasilia für eine echte Agrarreform, deren oberstes Ziel die Ernährung der eigenen Bevölkerung ist.

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Sie ist keine Partei, keine Gewerkschaft, vertritt keine politische Ideologie - und doch ist die brasilianische Landlosenbewegung zur stärksten Oppositionskraft im größten Staat Lateinamerikas geworden. Im April protestierten Tausende in der Hauptstadt Brasilia für eine echte Agrarreform, deren oberstes Ziel die Ernährung der eigenen Bevölkerung ist.

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Selbst die Weltbank bezeichnet Brasilien als das Land mit der ungerechtesten Landverteilung: In dem riesigen Staat - mehr als hundertmal so groß wie Osterreich - besitzen weniger als ein Prozent der Grundbesitzer 43 Prozent des bebauten Bodens, und von 400 Millionen Hektar fruchtbaren Bodens werden gerade 52 Millionen Hektar genutzt, viele Millionen Menschen sind ohne Grundstück und irren auf der Suche nach einem Stück Boden zum Bestellen im Land umher.

Die Problematik ist alt und bekannt, seit Jahrzehnten werden Anläufe zu einer Agrarreform unternommen, die jedoch alle bisher scheiterten. Auch der gegenwärtige Präsident Fernando Henrique Cardoso ging mit dem Versprechen einer umfassenden Landreform in die Wahl. Zum Amtsantritt vor zwei Jahrer( hatte er verkündet, 280.000 landlosen Familien Besitztitel zu erteilen, doch hinkt das Ergebnis weit hinter dem Versprechen einher. Seit 1993 gibt es sogar ein Gesetz, das die Verteilung enteigneten Bodens an die Landlosen regelt, doch legen sich die Großgrundbesitzer mit einem riesigen Aufgebot an Rechtsanwälten gegen Enteignungsbescheide quer. Und wenn die Enteignung vor Gericht nicht aufgehoben werden kann, so greifen die Landeigentümer zu außerlegalen Mitteln: Bestechung von Richtern, gewaltsames Eingreifen von Polizei oder von bezahlten Killern.

„Besetzen & Produzieren!"

Auf Grund der Wirkungslosigkeit der staatlichen Agrarpolitik begannen sich Mitte der achtziger Jahre die landlosen oder von ihrem Grund vertriebenen Bauern und Bäuerinnen selbst zu organisieren und gründeten das „Movimento dos Trabalhadores Rurais sem Terra" (MST), die Bewe-gung der Landlosen. „Besetzen, Widerstand leisten und produzieren!" lautete von Anfang an die Parole. Die Fähigkeit der von einem 20köpfigen Ieitungsgremium kollektiv geführten Bewegung, die Massen zu mobilisieren, und die geschickte Wahl der zu besetzenden Landgüter haben die MST schnell zum Hoffnungsträger von Millionen von Brasilianern gemacht. „Es sind vor allem unproduktive Großfarmen, die wir besetzen, aber auch Staatsland, das sich Großgrundbesitzer widerrechtlich angeeignet haben", erklärt Gilmar Mauro von der MST-Führung die Politik der Bewegung. Ein Artikel der neuen Verfassung von 1988, der besagt, daß unproduktiver Großgrundbesitz zum Zwecke der Agrarreform enteignet werden kann, gibt ihnen die rechtliche Handhabe für ihre Aktionen. Oftmals wandern Tausende von Frauer! und Männern mit Sack und Pack nächtelang zu einer Fazenda, besetzen dann überfallsartig einen Teil des ungenutzten Besitzes und errichten darauf mit den mitgeschleppten Pla-

stikplanen und Stangen eine Barackenstadt. Dann beginnen die Verhandlungen zwischen den zuständigen Regierungsbehörden und dem Grundbesitzer und den MST-Vertretern. Oder der Fazendeiro entscheidet sich für eine gewaltsame Antwort.

Am 17. April des Vorjahres blockierten ein paar Dutzend Landlo-senfamilien im Bundesstaat Parä in der Amazonasregion eine Straße in der Nähe des kleinen Dorfes Eldorado. Sie wollten damit für die Erteilung eines Stückchens Land demonstrieren. Doch der Gouverneur von Parä, ein Parteigänger des sich sozialdemokratisch gebenden Staatspräsidenten, gab auf Drängen von Grundbesitzern der Begion der Militärpolizei den Befehl zur Räumung der Blockade: 19 Aktivisten der MST blieben tot auf der Straße liegen, nach kirchlichen Angaben sogar 32, die meisten vorsätzlich hingerichtet und nicht etwa im Kampf gefallen. Nur durch die Tatsache, daß ein anwesendes Fernsehteam die schockierenden Bilder in die Welt hinaustrug, konnte der Vorfall nicht vertuscht werden. Im Anschluß an dieses Massaker wurde der 17. April zum „Internationalen Tag gegen die Unterdrückung auf dem Land" erklärt und der erste Jahrestag zum Höhepunkt eines Sternmarsches von Tausenden Landlosen auf die Hauptstadt festgelegt.

17. April 1997. Das ganze Land und auch die Weltöffentlichkeit blicken nach Brasilia, wo die zu Fuß angewanderten MST-Aktivisten ein Gespräch mit dem Staatsoberhaupt verlangen. 100.000 Symphatisanten haben sich in der Hauptstadt versammelt. Und unter dem Druck der öffentlichen Meinung lädt der Staatschef, der frühere marxistische Soziologe und heutige Großgrundbesitzer Cardoso, tatsächlich für den nächsten Tag eine Delegation in den Präsidentenpalast ein. Dort präsentieren ihm

die Vertreter der Landlosen ein konkretes Aktionsprogramm zur Bekämpfung von Hunger und Landflucht. Spätestens mit dieser vielbeachteten Audienz beim Staatspräsidenten hat sich die MST nicht nur als erfolgreiche Interessensvertretung der Landlosen, sondern als stärkste Oppositionskraft überhaupt manifestiert.

Doch trotz der Anerkennung durch die höchste Staatsmacht ist der Kampf um Land und Territorialrechte in Brasilien weiterhin gefährlich. Mit beim großen Aktionstag in der Hauptstadt war auch eine Delegation von Pataxo-Indios, und einer von ihnen war sogar bei der Audienz beim Präsidenten anwesend. Der Häuptling Galdino Jesus dos Santos wird in der darauffolgenden Nacht von einer Gruppe jugendlicher Weißer aufge griffen, mit Benzin überschüttet und bei lebendigem Leib verbrannt. Die fünf later sind Söhne der Oberschicht von Brasilia; sie gaben an, sie hätten nur einen Spaß machen wollen.

TV-Präsenz

Nach Angaben der MST-Führung sind heute etwa zehn Prozent der landlosen Familien in der Bewegung organisiert; ihre potentielle Basis erstreckt sich auf alle 23 Millionen erwachsene Landlose: verschuldete Kleinbauernfamilien, die ihr Land an die Banken verpfändet und verloren haben, arbeitslose Tagelöhner, Saison- und Landarbeiter, denen die Ma-schinisierung die Arbeit geraubt hat. „Wir haben mit unseren Aktionen immerhin schon 140.000 Familien zu Land verhelfen können", freut sich MST-Führer Mauro. Das sind rund 700.000 Menschen, die ihr Herumirren auf Arbeitssuche gegen ausreichend Essen und ein bescheidenes Einkommen eintauschen konnten. Die neuen Kleinbauern sind in Pro-

duktionskooperativen organisiert; mit Hilfe staatlicher Subventionen werden auch Agrarbetriebe wie Molkereien und Hühnerfarmen bis hin zu Teefabriken und Textilbetrieben aufgebaut. Diese erfolgreiche Tätigkeit zum Wohle der Landlosen hat auch das Bild der MST in den Medien zumindest teilweise geändert: Der marktbeherrschende TV-Sender „Rede Globo" startete in der zweiten Hälfte des Vorjahres sogar eine Te-lenovela, „Der König der Rinder", in der die Landlosen als Sympathieträger dargestellt werden - natürlich auch hier mit schmalziger Liebe verbunden.

Königlicher Preis

Auch international findet die Arbeit der brasilianischen Landlosenbewe-gung immer mehr Anerkennung. Im vergangenen März wurde die MST in Brüssel mit dem umgerechnet 1,3 Millionen Schilling dotierten „Internationalen König-Baudouin-Preis für Entwicklung" ausgezeichnet was zu einer Verstimmung zwischen der belgischen und der brasilianischen Regierung geführt hat. Anfang Mai fand in Barcelona das „Erste Europäische Treffen der Freunde der MST" statt. Kirchliche Organisationen und Persönlichkeiten haben den Kampf der brasilianischen Landlosen schon seit langem unterstützt; Erzbischof Dom Helder Camara etwa ist einer der geistigen Väter der Bewegung, und die katholische Kommission für Landpastorale CPT der brasilianischen Bischofskonferenz ist einer der wichtigsten Partner der MST. Die Arbeit der CPT wird in Osterreich von der Dreikönigsaktion der Katholischen Jungschar unterstützt.

„Die MST ist die wohl erfolgreichste Modernisierungs- und Resoziali-sierungsbewegung der Landbevölkerung, die es je in Brasilien gab", anerkennt der Soziologe Jose de Souza Martins von der Universität Säo Paulo die Rolle der Landlosenvereini-gung. Doch einen dauerhaften Beitrag zur Lösung der Landfrage wird sie nur bei einer grundlegenden Veränderung der politischen Verhältnisse leisten können. Die Großgrundbesitzer stellen mit 178 Abgeordneten die stärkste Fraktion im brasilianischen Parlament, mehr als jede politische Partei. „Nur wem es gelingt, diesen Einfluß zu knacken, der kann wirklich etwas in der Politik bewegen", erklärt Souza Martins.

Der Autor ist

Redakteur der Zeitschriften „Südwind" und „Lateinamerika anders Panorama " und lebt in Wien.

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