Eine Alternative zum Nichts gibt Identität
Die Mafia verspricht Identität, ein Jemand zu werden und kein "Niemand vermischt mit dem Nichts". Und dem Staat gelingt es nur partiell, Gegensymbol zu sein.
Die Mafia verspricht Identität, ein Jemand zu werden und kein "Niemand vermischt mit dem Nichts". Und dem Staat gelingt es nur partiell, Gegensymbol zu sein.
Nessuno immischiato con niente - Niemand vermischt mit dem Nichts" ist eine gängige sizilianische Redensart. Wenn du den Leuten etwas bedeuten willst, musst du ihnen klar machen, dass du besser bist. Wenn das aber nicht so ist, musst du ihnen klar machen, dass sie "Niemand vermischt mit dem Nichts" sind. Die Cosa Nostra nützt dieses Empfinden des Nichts des Einzelnen und einer durch ihre Geschichte zu einer Form von kollektiver Apathie gedrängten Gesellschaft und bietet eine Existenz an. Tod, Mord, Leid und Grausamkeit werden ohne Schuldgefühle wahrgenommen. Befehle werden ausgeführt.
Ein Staatsanwalt wird zum Maximum an Aufgebot des Gegners. Es ist eine Ehre, diesen großen General des Feindes zu töten. In einer Welt wo das Naturrecht herrscht, werden Morde zur Notwendigkeit, um das Überleben der Gruppe zu sichern. Einer hierarchisch organisierten Gruppe, die dem Einzelnen die Möglichkeit bietet, nicht nur ein Körper, sondern ein Subjekt zu werden und als solches in die Komplexität der Außenwelt zu treten. Als Mafiosi wird ihnen Respekt erwiesen, es senken sich die Köpfe. Die Mafia bietet nicht nur Geld und Macht. Sie bietet Identität. Bei Gesprächen mit Mafia-Überläufern stieß Staatsanwalt Dottore Roberto Scarpinato auf einen beachtenswerten gemeinsamen Nenner, der das Innenleben manch kleiner wie großer Ehrenmänner durchzieht: "Ihr Richter seid überzeugt, wir werden wegen des Geldes zum Ehrenmann, nein, vorher war ich ,Niemand gemischt mit dem Nichts', später senkten sich überall die Köpfe vor mir, und das war mehr Wert, als all das Geld, das ich mit Drogen gemacht habe."
Torero in der Arena Staatsanwalt Scarpinato ist seit 1988 in der Anti-Mafia-Staatsanwaltschaft in Palermo und versucht das Wesen der Cosa Nostra zu begreifen: "Es gibt Kulturen, die krank sind. Und diese Kulturen bringen kranke Männer hervor. Das Problem ist aber, diese Kulturen verstehen sich nicht als krank. Sie leben in dem Selbstverständnis der Summe ihrer Geschichte." Sizilien hat eine stark zurückgebliebene Kultur, die Lebensart des Mittelalters hat hier bis zum Anfang des letzten Jahrhunderts gedauert. Sizilien war über Jahrhunderte besetzt und wurde immer wieder ausgebeutet. Das Vertrauen in die politisch Mächtigen, in die Kirche, in jede Art von Autorität ist in dieser Zeit verloren gegangen.
Am Ende des Feudalismus erschütterte etwas Neues die bestehende Ordnung: das Land wurde zur Ware. Es war kaufbar. Das schuf Mobilität, Verhandlungsräume und soziale Spannungen. Die Mächtigen, unter ihnen ein paar Noble, teilten sich schließlich das Land, die restliche Bevölkerung war "Niemand vermischt mit dem Nichts." Ohne Land, ohne Kultur, ohne Tradition, ohne familiäre Geschichte und damit eine Bedrohung. Einige verarmte Bauern wurden Banditen. Eine "Schutzindustrie" konnte Fuß fassen. Der Embryo der Cosa Nostra entstand in dieser Zeit in den Gehirnen der Noblen, und aus der Lupara, dem Gewehr der Bauern. Ihr Ziel, Land an sich zu reißen, als erste Phase.
Nach dem zweiten Weltkrieg wurde es möglich durch Spekulation, Kontrolle von Ausschreibungen und durch Provisionen Geld zu verdienen. Die Mafia hatte schon ihre Tradition. Die Familien, die zu Land gekommen sind, waren mächtig. Die gesellschaftliche Realität aber war immer noch mittelalterlich: eine Masse, die keine Macht hatte. Es kam hinzu, dass der Staat nicht glaubhaft war. Auch nach der Angliederung Siziliens an Italien konnte der Staat keine Präsenz entwickeln, weil die wichtigen politischen Posten mit der Mafia verstrickt waren.
Was macht der Sizilianer, der ja eigentlich kein Mafioso ist? An wen hält er sich? An die Mafia? An den nicht-präsenten Staat? Die Cosa Nostra wurde für viele junge Sizilianer interessant, ähnlich wie heute die "vory v zakone", die russische Mafia, für die Jugendlichen in den Oststaaten. Sie präsentiert sich nicht als kriminelle Organisation, sondern als geheime Führungsstruktur, eine Alternative zur - als schwach empfundenen - Herrschaftsklasse. Psychologisch betrachtet: das Angebot einer Superidentität.
Die nicht-kriminellen Sizilianer stehen zwischen den Mächten. Durch ihre Geschichte stärkte sich die Devise: nicht einmischen. Der von der Mafia getötete Richter Giovanni Falcone sagte einmal, er fühle sich wie ein Torero in der Arena. Das große Publikum sieht dem Spektakel zu. Da ist er mit dem Stier. Aber Falcone, sein Kollege Borsellino und mit ihnen andere Staatsanwälte wuchsen in der Bevölkerung auf Grund ihres entschlossenen Engagements langsam zu etwas Glaubhaftem. Zu einem starkenBild, zu einem Symbol. Da war plötzlich ein Staat, der durch methodisch denkende Personen repräsentiert wurde. Und das war gefährlich für die Mafia, dieses Symbol.
Die Mafia reagiert. Sie schwächt dieses Symbol. Die Mitarbeiter Falcones wurden verhöhnt und verleumdet, ebenso der Anti-Mafia-Pool. Und heute: über die Medien werden Personen diskreditiert: Richter, Staatsanwälte. Erstes Mittel und erste Drohung. Die Mafia bekämpfen heißt, ihre eigenen Symbole bekämpfen. Die Mafia kreiert sich Mythen, Rituale, gibt sich Traditionen, macht sich zu einem Volk, das Geschichte hat, zu einem Stamm.
Das bestätigte sich bei einem Gespräch zwischen Staatsanwalt Scarpinato und einem hundertfachen Mafia-Mörder bei dem eine Sekretärin des Staatsanwalts anwesend war: Der Mafioso erzählte seine Morde und jedes Mal wenn er von einem neuen Mord begann, drehte er sich zur Sekretärin und sagte: "Entschuldigen Sie!" Als das Gespräch nach vier Stunden fertig war, packte der Mafiosi seine Sachen zusammen und bevor er ging, entschuldigte er sich noch einmal bei der Frau: "Ich habe die Befehle meiner Hauptleute befolgt. Und das einzige Gericht, das mich interessiert, ist das Gericht meines Volkes. Ich hätte mich nicht gut gefühlt, einen einzigen Befehl nicht ordentlich ausgeführt zu haben."
Mafia bietet Karriere Die Cosa Nostra ist ein hierarchisch gegliedertes Volk aus Soldaten, Familienoberhäuptern, Capos bis hin zur obersten Regionalkommission. In einem abgehörten Telefongespräch zwischen zwei Mafiosi hieß es einmal: "Für mich wäre es das Schönste, wenn der liebe Gott mich so lange leben lassen würde, dass ich den großen Capo noch treffen könnte." Ein anderes Beispiel: Ein sehr junger Sizilianer erzählte, an dem Tag, an dem er endlich Mitglied der Cosa Nostra geworden war, sei er 24 Stunden mit dem Auto durch die Stadt gefahren, so glücklich war er gewesen. Endlich war er Teil von etwas Großem. Ein anderer, der im Gefängnis saß, meinte: "Es ist besser im Gefängnis, als ein Nichts zu sein." Die Cosa Nostra bietet einen Werdegang und verwandelt die Leere in Fülle. Es geht um die Mechanismen wie Identität entsteht, um die Familie, die Mütter, die Jugendlichen, die Eltern, die Lehrer.
Mord, Beichte, Mord Scarpinato hat zusammen mit Professoren bei Schulkonferenzen gesprochen und versucht, den jungen Menschen klar zu machen, wie man nicht denken soll. Ein Anti-Mafia-Denken sozusagen. Das Schwierigste dabei ist, Identität zu entfalten. Und wenn man sie entfaltet hat, ist es ebenso schwierig diese zu schützen. Persönliche Identität bezieht sich auf die große Einmaligkeit und Kontinuität des Individuums. C. G. Jung spricht von der Individuation, vom Weg "Selbst" zu werden. Soziale Identität bezieht sich auf die Gesamtheit der Rollenerwartungen und ist ein Balanceakt zwischen der persönlichen Einmaligkeit und der Erwartung der Gesellschaft.
Scarpinato: "Stellen Sie sich einen Jungen vor, hier in Sizilien, in Amerika, Russland, Jugoslawien oder Albanien. Welche Voraussetzungen nimmt er mit? Was sieht er? Welche Vorbilder hat er? Wenn du arm bist, aber etwas aus deinem Leben machen willst und es kommt jemand und sagt, hier hast du 7.000 Schilling, und ich mache dich zu Gott." Mafiosi sind oft sensible und gute Menschenkenner. Scarpinato geht so weit zu sagen, er habe Angst um Journalisten, die in den Gefängnissen Mafiosi interviewen. Der Mafioso erkennt sofort mit wem er es zu tun hat und wie weit er "seine Wahrheit" vermitteln kann, ohne seine Glaubwürdigkeit zu verlieren. Sie verstehen es die Dinge umzudrehen und glaubhaft zu machen.
Einmal fragte der Staatsanwalt einen Mafiosi, ob er denn keine Schuldgefühle habe, wenn er Menschen tötet. "Waren Sie noch nie in Rom?", antwortete dieser. "Waren sie noch nie am Campo di Fiori bei der Statue dieses Philosophen, den die Kirche verbrannt hat? Die katholische Kirche hat ihre Feinde verbrannt, warum sollte ich nicht meinen Befehlen gehorchen und unsere Feinde töten?"
Die katholische Kirche und die Mafia, das ist ein eigenes Kapitel. Die Kirche hatte in der Vergangenheit mehr Angst vor dem Kommunismus, als vor der Mafia und entwickelte ihr gegenüber eine gewisse Toleranz, erklärt Scarpinato. Heute gibt es viele Anti-Mafia-Priester. Aber es gibt auch Mafia-Priester. Auch die Absolution nach der Beichte ist ein Problem. "Der Mafioso mordet, beichtet, mordet, unsere Ermittlungen hinken hinterher", gibt Scarpinato zu bedenken.
Mit einem weiteren Bild versucht Scarpinato sein Problem zu verdeutlichen: "Wir Staatsanwälte sehen in ein Universum voller Sterne. Bis uns das Licht der kriminellen Ereignisse erreicht, hat sich dort oben aber schon wieder alles verändert. Die Mafia ist uns immer voraus. Im Moment jedenfalls, wissen wir, ist es in der Mafia verboten, wichtige Persönlichkeiten umzubringen. Die Mafia zieht sich zurück, und solange keine Morde in der Zeitung stehen, gibt es die Mafia nicht, sie kann in Ruhe neue Wege beschreiten."
Wichtig sei es, wach zu bleiben, resümiert Scarpinato. Ein sizilianisches Sprichwort sagt: Senke das Haupt und zähle die Sterne. Falcone tat das. Richter Falcone hatte in seinem Büro immer den Teletext eingeschaltet. Wenn irgendetwas passiert ist, Börsenkurse fielen, Politiker eine Reise machten, andere Politiker nach Palermo eingeladen wurden, kam es vor, dass er sich zurückzog und die neue Information in das Bild, das er sich für seine Ermittlungen machte, einfügte. Jedes Detail konnte wichtig sein. Für die Arbeit der Mafia-Jäger, für deren Überleben.
Dafür oder Dagegen Palermo ist eine Stadt der Entscheidung. Man kann hier seine Entscheidungen nicht hinausschieben. Man ist entweder dafür oder dagegen, und das mit allen Konsequenzen und wenn du in einem armen Viertel aufwächst, dann entscheidest du noch früher. In dieser Stadt schlägt dich die Realität an die Wand. Du erkennst, wer du bist. Ein Freund fragte einmal Staatsanwalt Scarpinato: "Ist es möglich ein Tagebuch über Palermo zu schreiben - über die Wahrheit?" Scarpinato antwortete: "Das ist nicht möglich. Es gibt zu viele Ebenen, zu viele verschiedene Wahrheiten. Nehmen sie mich - ich bin seit 1988 in Palermo. Die meiste Zeit verbringe ich mit Mord. Welche Wahrheit ist das? Ich habe etwas aufgeben müssen, etwas umbringen, das ist nicht schön, irgendwann erkennst du, dass es so ist. Meine Zerbrechlichkeit, um die Zerbrechlichkeit der Allgemeinheit zu schützen. Das ist die Gefangenschaft in meiner Funktion. Ich habe auch keine Angst mehr. Wissen sie wie das ist? Es ist nicht mehr von Interesse, ob ich sterbe oder nicht. Das verändert."
Der Mafioso darf nie sehen, dass du zerbrechlich bist, gibt Scarpinato zu bedenken, denn in Palermo kannst du nicht zerbrechlich sein. "Wenn die Mafia dich auffordert, Schutzgeld zu zahlen, fühlst du dich das letzte Mal in deinem Leben zerbrechlich, denn dann entscheidest du dich: entweder du zahlst und kooperierst, oder du zahlst nicht und riskierst dein Leben und das deiner Angehörigen, oder du sagst aus: und bist dein Leben lang auf der Flucht. Durch diesen Mechanismus, das Stehlen der Freiheit, das Abhandenkommen von individueller Kreativität, das Unterdrücken der Entwicklung zu einer höheren Kultur, in der es möglich wäre, zu erkennen, dass es außerhalb des Stammes auch andere gibt, durch all das geht das Beste verloren. Man ist festgelegt. Das, was man hätte sein können, stirbt."