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Günter Grass - eine deutsche Erregung

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Ein Schweißfuß komme selten allein, so ließ sich Marcel Reich-Ranicki, der Megameister des deutschen Großfeuilletons, über Fonty und dessen Tagundnachtschatten vernehmen. Das war so grob, das schlug Gün -ter Grass und seine Leser so vor den Kopf, daß man ahnen konnte, wie es weitergehen würde. Und als Reich-Ranicki dann im „Literarischen Quartett”, mit gut gespieltem, fast schon kindischem Zorn „Mißraten, mißraten, mißraten!” und „Dieses Buch ist schlecht, schlecht, schlecht!” schrie und andere Meinungen nicht mehr zu Wort kommen ließ, war es keine Kunst mehr, Windstärke 12 im Wasserglas vorauszusagen.

In solchen Fällen wird das verbale Inderluftzerfetzen eines Buches alsbald auf eine Stufe mit der Goeb-bels'schen Bücherverbrennung gestellt und das Wortabschneiden in hitziger Debatte unweigerlich mit den Zensurmaßnahmen einer Diktatur.

Fonty und besagter Tagundnachtschatten sind die Hauptfiguren im jüngsten Roman „Ein weites Feld” von Günter Grass, der jetzt endlich fertig geworden ist: Zunächst nur ein Buch, ist er nun ein Gesamtkunstwerk, eine untrennbare Einheit mit der von ihm ausgelösten, sehr typischen deutsehen Erregung, nie mehr anders zu lesen als im Kontext von Kritik, Gegenkritik und Kritik der Kritik, von aufgekündigten Freundschaften, Zornesausbrüchen, Abkanzelungen und Schmollreaktionen.

Einen so schönen Skandal hatten wir tatsächlich schon lange nicht. Bekanntlich treibt ja die Kunst des Skandals ihre schönsten Blüten, wenn es um rein gar nichts geht. Diesem Erfordernis wird Günter Grassens neuer Roman auf nahezu idealtypische

Weise gerecht. Die ihm zugrundeliegende Idee hätte sicher ein Werk von 250, ja vielleicht 300 Seiten getragen. Aufgeblasen auf 780 Seiten, gleicht das Buch auf komische Weise dem nach seinem Erscheinen veranstalteten publizistischen Trara: Beide wirken überdimensioniert.

Grass wollte wohl ein Wort von Goethe widerlegen. Der sagte sinngemäß, wenn man einen Hund absolut naturgetreu malen könnte, hätte man zwei Hunde, aber kein Kunstwerk. Günter Grass hingegen scheint irgendwann den Verdacht gefaßt zu haben, seine Frau könnte Theodor Fontane für einen größeren Dichter halten als ihn selbst, worauf er offenbar beschloß, Fontane zu verdoppeln, indem er, wenn er schon selbst nicht Fontane werden konnte, wenigstens einen Doppelgänger für ihn erfand.

Der Doppelgänger heißt zwar Theo Wuttke, wird aber allüberall Fonty genannt. Fonty ist Aktenschlepper im Ostberliner Haus der Ministerien, seit er mit seinen Kulturbund-Vorträgen allzuweit von der Parteilinie abwich und die Anpassung verweigerte. Er kleidet sich wie Fontane, redet wie Fontane, schreibt wie Fontane, hat seine Biographie als Parallelaktion zu der Fontanes und seine Familienmitglieder, soweit willig, zu Fontanefiguren stilisiert, und seine französische Enkeltochter, von deren Existenz er bisher nichts gewußt hat, erweist sich als auf Fontane fixierte Studentin.

Ein guter Teil der 780 Seiten liest sich wie ein hochgestochenes Literaturquiz, bei dem man draufkommen soll, was von Fontane ist und was von

Günter Grass. Das Schreiben muß eine wahre Zettelkasten-Orgie gewesen sein. Der Leser tut gut daran, vor dem „Weiten Feld” wenigstens alle Werke von Fontane überflogen und die neue Fontane-Biographie von Heinz Ohff gelesen zu haben.

Aber was ein ernstzunehmendes Gemälde ist, das bildet mehr ab als nur einen Hund. Grass begnügte sich nicht damit, Fontane zu verdoppeln, sondern er verdoppelte auch den ewi^ gen Geheimagenten und die deutsche Situation. Fontane erlebte die Entstehung des Deutschen Reiches, Theo Wuttke, alias Fonty, erlebt die Wiedervereinigung - zwei einander in manchem ähnelnde Katastrophen, wie nicht nur Wuttke und sein Tagundnachtschatten Hofta^ler finden, sondern auch Günter Grass.

Ein Standpunkt, den man nicht teilen muß, der aber erlaubt ist. Und was die unerfreulichen Nebenerscheinungen der Wiedervereinigung, die Orgien der Raffsucht betrifft - in der Hinsicht trifft Günter Grass wohl den Nagel auf den Kopf. Vielleicht sogar zu sehr. Ein Teil der Kritik rieb sich am Politischen deutlich mehr als am Literarischen.

Der ewige Geheimagent hieß einst Tallhover und heißt jetzt Hoftaller. Die Gestalt des Tallhover entnahm Grass einem Roman von Hans Joa-chim Schädlich (dem er dafür in einem Vermerk dankt). Changierend, der eine zwischen der Existenz des historischen Fontane und des heutigen, Fontane-versessenen Theo Wuttke, der andere zwischen der des Tallhover des neunzehnten und des Hoftaller des zwanzigsten Jahrhunderts, reden sie, reden und reden, einstige und heutige Existenz in der ersten Person vermischend, als seien sie seit 150 Jahren auf der Welt, und genauso, einstiges und heutiges vermischend und verwischend, redet der Erzähler vom „Archiv”, der sich spät, aber doch als Erzählerin entpuppt.

Mit dieser Methode gelang Grass ein Roman von selten überbotener Weitschweifigkeit und, über weite

Strecken, einer für jeden nicht auf Fontane fixierten Leser schwer überwindbaren Langweiligkeit. Hat man sich allerdings durch ein Viertel oder Drittel durchgewürgt, gerät man immer öfter an reizvolle Stellen. Die Hochzeit der ostdeutschen Lehrerin (und Wuttke-Tochter) Martha mit dem westdeutschen Baulöwen ist köstlich beschrieben. Wie da eine westdeutsche Adelige von den zurückzufordernden Gütern redet und die Braut das Einheitsfrontlied anstimmt, das ist von hinterfotzigem Witz, eine dicke Rosine im vielen, vielen Teig.

Wie überhaupt der Gewinn der Lektüre, die freilich eine Lese-Ausdauer der Marathonklasse erfordert, in einer überzeugenden Wiedergabe einer Palette ostdeutscher Befindlichkeiten besteht. Daher scheint es mir auch unfair und unzulässig, dieses Buch mit der Elle der Political correct-ness zu messen, wenn auch der eine oder andere Satz starker Tobak ist.

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