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Was ist Wirklichkeit?

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Eine Neuerscheinung wie die auf dem Buchmarkt so unsensationell wirkende Auswahl von sechs „Theaterspielen“ aus der Feder von Günter Grass zwingt, je mehr man sich damit beschäftigt, zum Nachdenken. Grass, ursprünglich ja von der Bildhauerei herkommend, also dem sinnlich Tastbaren, dem Konkreten mental näher als der bloßen Reflexion, hatte als Theaterautor erst „Erfolg“, als er scheinbar vordergründig Zeitgeschichte einbezog, freie Erfindung und 'jedermanns Gegenwart unkenntlich inein-andermischte, wie man's aus seinen Epen gewohnt war: „Die Plebejer proben den Aufstand“ war schon auf den Spielplanankündigungen zu finden, als Grass noch an dem Stück herumfeilte, während „Die bösen Köche“ — Hauptwerk der vorangegangenen, fälschlich „absurd“ genannten Periode, bis jetzt das beste Stück von Grass überhaupt — fünf Jahre auf die Uraufführung warten mußte. Bis heute ist es weit unbekannter als „Die Plebejer“, und sein letztes Stück, „Davor“, in dem sich persönliche Redlichkeit bis zur Selbstanzeige und künstlerische Unzulänglichkeit die Waage halten.

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Eine Neuerscheinung wie die auf dem Buchmarkt so unsensationell wirkende Auswahl von sechs „Theaterspielen“ aus der Feder von Günter Grass zwingt, je mehr man sich damit beschäftigt, zum Nachdenken. Grass, ursprünglich ja von der Bildhauerei herkommend, also dem sinnlich Tastbaren, dem Konkreten mental näher als der bloßen Reflexion, hatte als Theaterautor erst „Erfolg“, als er scheinbar vordergründig Zeitgeschichte einbezog, freie Erfindung und 'jedermanns Gegenwart unkenntlich inein-andermischte, wie man's aus seinen Epen gewohnt war: „Die Plebejer proben den Aufstand“ war schon auf den Spielplanankündigungen zu finden, als Grass noch an dem Stück herumfeilte, während „Die bösen Köche“ — Hauptwerk der vorangegangenen, fälschlich „absurd“ genannten Periode, bis jetzt das beste Stück von Grass überhaupt — fünf Jahre auf die Uraufführung warten mußte. Bis heute ist es weit unbekannter als „Die Plebejer“, und sein letztes Stück, „Davor“, in dem sich persönliche Redlichkeit bis zur Selbstanzeige und künstlerische Unzulänglichkeit die Waage halten.

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Das Nachdenken bezieht sich auf das, was wir von der Bühne erwarten und von einem, der für die Bühne schreibt, der sie als ein Ausdrucksmittel unter anderen betrachtet und gewiß nicht auf „Erfolge“ angewiesen ist. In der kurzen einleitenden Regieanweisung zu „Davor“ heißt es: ,,Die Wirklichkeit ist die Wirklichkeit der Bühne.“ Grass verwahrt sich dagegen, daß Regisseure durch szenische Zutaten — Dokumentationen etwa — etwas demonstrieren, was er als Autor nicht demonstrieren will. Anderseits ist er, wie man weiß, ein Mann, der sich in der Wirklichkeit des Tages engagiert; der eingreift in Wahlkämpfe, sagt, was er für richtig hält. Und da hieß es in einer „Zeitung für Deutschland“, als er eine „politische Nachrede zur Wahl“ hielt (zur nach seiner Meinung nach falschen Wahl), eine engagierte, brisante und — vor allem aus heutiger Sicht — sehr bedeutsame Rede: Er habe die Wirklichkeit entstellt. Was heißt denn hier Wirklichkeit? War das mittlerweile revidierte Ergebnis der Wahl vom 19. September 1965 damals die Wirklichkeit? Ist die heutige politische Konstellation in der Bundesrepublik Deutschland eine Wirklichkeit — oder ißt sie nur eine bessere Wirklichkeit, die morgen wieder schlechter werden kann? Beschreibt die Bühne eine höhere Wirklichkeit, und ist sie so hoch, daß man sie nicht erreichen kann?

Die Stücke von Grass zeigen einen Mann, den Autor selber, der sich in ständiger Auseinandersetzung befindet mit einer seiner schönsten Tugenden: mit der Vernunft. Vernunft ist heute wenig gefragt am Theater, das eher dem Chaos zuneigt, dem Dionysischen, wie es von sich selber gelegentlich behauptet. Wieweit das sinnvoll ist, sei im Moment nicht weiter untersucht. Grass selber nämlich vertraut nicht bedingungslos auf die Vernunft — und nicht zuletzt darin zeigt sich die seine. Er sagte einmal über seinen Arbeitsprozeß, bezogen auf das Schreiben: „Ich versuche, während der Arbeit zu lernen, Klarheit über historische, gesellschaftliche und politische Zusammenhänge zu gewinnen. Durch ihr Eigenleben fordern die Figuren ihr Recht..., sie zwingen den Autor zum Dialog mit ihnen.“ Nur unter diesem Gesichtspunkt ist „Davor“ zu verstehen: als künstlerisch berechtigter Zweifel an der Vernunft, die damals — als das Stück und der thematisch parallel geordnete Roman „örtlich betäubt“ konzipiert wurden, also nach dem September 1965 — eben nicht gesiegt hatte. Grass legt dem Schüler Scherbaum die Begründung für das Zögern des „liberalen“ Studienrates Starusch, sein Placet zur Protestaktion zu geben, in den Mund: „Weil Sie sich die Folgen ausdenken, bevor Sie handeln, damit die Folgen Ihren Berechnungen entsprechen. Weil Sie sich nicht mögen. Weil Sie vernünftig sind, dabei sind Sie dumm.“ Das ist eine harte Selbstbezichtigung: „Weil Sie sich nicht mögen!“ Später sagt Starusch zu dem „Zahnarzt“, dessen Behandlungsstuhl als eine Art Beichtstuhl fungiert: „Auch wenn Scherbaum nichts tut, unseren Dreck hat er aufgewühlt.“

Scherbaum tut nichts, das heißt, er verbrennt seinen Hund nicht vor den kuchen-konsumierenden Damen auf dem Kurfürstendamm (ein Einfall, der in der Tat ziemlich dumm und nicht nur wegen der direkten Aktion un-vemünftig war), aber Grass findet das eindeutig nicht richtig. Das Stück konnte gar nicht zulänglich gelingen. Es ist belastet mit der Erfahrung des Scheiterns im Bereich der Realität, wo Worte nichts genützt haben. Folglich gibt es darin eine Auseinandersetzung über den Sinn von Gesprächen oder Taten. Wer genau liest, findet wörtliche Anklänge an gehaltene Reden. Des Spieles Un-zulängichkeit ist seine Größe: des Autors Redlichkeit. In den „Plebejern“ schon ist dergleichen vorgebildet, noch in die poetische Form gegossen, doch diese Form erweist sich als ästhetische Ausflucht: „Dies Mundstück einer C-Trompete / bläst Wünsche wach, die besser schlafen sollten“ oder „Verwirrte Kinder beten eine Taube an: / „Komm, Heiliger Geist, kehr bei uns ein!' / Komm, meine Taube, komm, Vernunft.“

„Die bösen Köche“ ist ein Parabelstück, auf das demnach nicht zutrifft, was Grass später über seine Prosa äußerte: daß er am Ort bleibe, Parabeln ausspare, ein direktes Verhältnis zur Geographie und zur Zeit habe. Aber Grass kam es bei diesen Sätzen darauf an, sich von der „Kafka-Nachfolge“ zu distanzieren, und damit haben zweifelsfrei weder seine Prosa noch seine Stücke etwas zu tun. Wenn man einen Ahnherrn für „Die bösen Köche“ suchen will, dann schiene mir Grabbe zutreffend; ein wenig steckt auch der deutsche Schulmeister darin. Grass' Zweifel an dem, was er denkt und sagt, waren seinerzeit noch nicht so ausgeprägt, doch das Stück geriet dabei besser. Als es den Bühnen zugänglich wurde, war für alles nicht auf Anhieb Perzipierbare die Schublade „absurdes Theater“ geöffnet; der Klappentext des hier zur Rede stehenden Luchterhand-Bandes hat sich davon noch nicht freigemacht. Vieles in dem Stück ist verschlüsselt, aber es ist darum kein Schlüsselstück; es steht nicht für etwas anderes, es sucht nicht den „Aha“-Effekt. Es beschreibt einfach konsequent eine Theaterwelt Aber eben dem, was die

Psychologen das „Aha“-Erlebnis nennen, jenem „mehr oder minder plötzlichen, bisweilen ganz unvermuteten Bescheidwissen“, kann es dennoch nicht ausweichen. Vielleicht hängt das mit der psychologischen Differenz von purem Denken und hohem Bewußtseinsgrad zusammen. Denken ist überreichlich investiert, aber das Bewußtsein wurde — so scheint es — bisweilen überschwemmt von der Lust am purer? Mimus oder am Wort-Spiel. In kein Grass-Stück ist überflüssigerweise soviel hineingedacht worden, bis hin zu der Vermutung, es handle sich (da bei der Uraufführung eine Figur in Grass-Maske auftrat) um eine Auseinandersetzung zwischen dem Autor und seinen Kritikern. Das Dunkle wird am Schluß mühelos transparent, allerdings zu einem Durchblick, den (soweit mir bekannt ist) niemand auszusprechen, niemand mit Grass in Verbindung zu bringen wagte: zum undogmatisch Religiösen. Das „Rezept“, das die Köche mit List und Brutalität, mit Folter und vorgetäuschter Sanftmut zu erjagen suchten, die „Erfahrung“, das „bewegliche Wissen“: all das — sagen wir: die Suche nach dem Sinn — wird überflüssig mit der Liebe. So einfach ist das. Der das Rezept besaß, „Der Graf“ genannt, „hat keinen Grund mehr, Geheimnisse zu hüten. Er hat, was er will.“ So durchschaubar ist das, und die Namen — „Petri“, „Vasco“ (wie Entdecker), „Kletterer“ (wie Emporkömmling) — sagen eigentlich schon genug, aber das Einfache ist immer wieder gebrochen (der „Graf“ steht als Intellektueller gegen die Meute, fühlt sich selber ein als einer, der aus Eitelkeit sich in Gefahr begab, kollaborierte), das Parabolische ist immer wieder zurückgeführt aufs Direkte. „Hochwasser“, das erste der in dem neuen Band vereinten Spiele, entstand 1955; unverkennbar reflektiert es das Nachkriegsgeschehen. Es Ist mit Anfängerschwächen behaftet, deutet indes in einigen Motiven sowohl auf „Die bösen Köche“ als auch auf die „Plebejer“- und „Davor“-Phase. Der Begriff des Symbols ist ironisch und recht oberflächlich ins Spiel gebracht „Onkel, Onkel“, unmittelbar nach „Hochwasser“ erschienen, die Geschichte vom verhinderten Massenmörder, einem Don Juan des Mordens, der allerdings nicht durch ein himmlisches Strafgericht, sondern durch zwei Gören endet, hat virtuosen, anti-bürgerlichen Witz; sprachlich in Sternheim-Nähe. Der Einakter „Noch zehn Minuten bis Buffalo“ ist ein glänzendes dramatisches Feuilleton, selbstironisch, mit überraschenden Einfällen; komisch, lyrisch, phantastisch eine vieldeutige Freiheit besingend. Zwischen den Stühlen auch dieses Stücklein, zwischen Ästhetik und Wirklichkeit, zwischen Symbol und Direktheit. Wie unterscheidet sich eines vom anderen, was ist Wirklichkeit? Ich komme auf „Die bösen Köche“ zurück und den überraschenden fünften Akt, diese nahezu Claudeischen Töne, und ich lese ein Interview, das schon zweimal zitierte, nach, das Grass 1966 (zehn Jahre später) gab: „Ich spüre bei mir eine Diskrepanz der Herkunft (katholisch getauft) und der Entwicklung, die mit dem Zweifel begann und nun eigentlich bei Aufklärung und Vernunft und unseren begrenzten, naturwissenschaftlichen Erkenntnissen Antwort und Teilantwort findet.“ Da steckt alles drin, die ganze vernünftige Unsicherheit und mehr ist nicht zu sagen.

THEATERSPIELE. Von Günter Grass. H ermann-Luchterhand-Verlag, Neuwied und Berlin, 1970. DM 28.—.

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