Nun trommelt er Nicht mehr

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Mit Günter Grass ist am 13. April einer der wichtigsten deutschsprachigen Autoren des 20. Jahrhunderts gestorben. Ein Nachruf.

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Mit Günter Grass ist am 13. April einer der wichtigsten deutschsprachigen Autoren des 20. Jahrhunderts gestorben. Ein Nachruf.

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Nicht mit einer Trommel aus Blech, aber ebenso lautstark mit Stimme, Stift, Schreibmaschine und Computer schaltete sich Grass in öffentliche Debatten und Diskurse ein. Die Hauptfigur Oskar Matzerath aus seinem Debütroman "Die Blechtrommel" (1959), für den Grass 40 Jahre später den Nobelpreis erhielt, kann auch als ein Alter ego des Autors gesehen werden, der sich weigerte, etablierte Sichtweisen und Werte der Gesellschaft, in der er lebte, einfach zu übernehmen. Nun trommelt er nicht mehr -Günter Grass ist tot.

"Die Blechtrommel" gilt als Jahrhundertroman -kaum ein anderes Werk der deutschsprachigen Literatur ist international zugleich so erfolgreich und angesehen wie dieser breit angelegte Schelmenroman über die Kriegs-und die Nachkriegszeit. Dabei stieß er zunächst nur bei einem kleinen Expertenpublikum auf Zustimmung, das erkannte, wie wegweisend Grass' freies, ironisches Spiel mit Traditionen und Formen für die Entwicklung der Literatur sein konnte. So bekam Grass für die Lektüre eines Kapitels den Preis der wichtigsten Literatenvereinigung der Zeit, der Gruppe 47.

Riss in der Literaturlandschaft

In den Feuilletons wurde eher gegen Grass getrommelt. Günter Blöcker nannte Oskar Matzerath "eine allegorische Figur von schwer zu überbietender Scheußlichkeit". Immerhin machte ihm die Lektüre "ein peinliches Vergnügen". Marcel Reich-Ranicki befand: "Die Sache wird erst bedenklich, wenn man virtuose Darbietungen dieser Art mit Kunst zu verwechseln beliebt." Auch kleinere oder regionale Blätter tendierten zur Ablehnung oder zum Verriss. Andere, wie Joachim Kaiser oder Reinhard Baumgart, waren voll des Lobes. Welcher Riss durch die Literaturlandschaft ging, zeigte sich, als die Jury des Bremer Literaturpreises für Grass votierte, aber der Senat der Stadt dagegen entschied und die Preisvergabe verhinderte.

Auch der zweite Roman der Danziger Trilogie, "Katz und Maus" von 1961, war ein Skandal, vor allem, weil er so offen jugendliche Sexualität thematisierte. Grass hat später einmal gesagt, dass es ihn sehr gefreut habe zu hören, wie viele nach der Lektüre "fröhlicher und unbeschwerter onaniert" hätten. Er blieb seiner Linie treu, auf gesellschaftliche Probleme hinzuweisen, in "Zunge zeigen" von 1988 auf die Armut in der Welt am Beispiel von Indien, in "Die Rättin" von 1986 auf die Umweltzerstörung oder in "Ein weites Feld" von 1995 auf die Ungerechtigkeiten der sogenannten Wiedervereinigung.

Mit seiner Kritik am Projekt der von vielen als geglückt angesehenen Nationwerdung Deutschlands tat sich der Autor keinen Gefallen. In der Folge wurden seine Arbeiten einer kritischen Revision unterzogen. Doch Grass blieb hart im Nehmen und ein Glückskind. Mit der Verleihung des Nobelpreises für Literatur 1999 war die ganze Nation wieder stolz auf 'ihren' weltweit bekanntesten und einflussreichsten lebenden Autor.

Von Reich-Ranicki oft verrissen

Die Situation änderte sich 2006 erneut, als Grass anlässlich der Veröffentlichung seiner Teil-Autobiografie "Beim Häuten der Zwiebel" bekannte, als 17-Jähriger am Kriegsende nicht nur Soldat, sondern in der Waffen-SS gewesen zu sein. Da Grass immer einer der profiliertesten Kritiker ehemaliger Nationalsozialisten gewesen war, wandten sich nun viele enttäuscht von ihm ab und warfen ihm rückblickend Heuchelei vor. Seine Geburtsstadt Danzig überlegte sogar, ihm die Ehrenbürgerwürde abzuerkennen.

Die große Nähe zu der und zeitweise Mitgliedschaft in der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, sein Trommeln für Willy Brandt gehören zu Grass' politischem Profil, ein Profil, das aber seit dem Ende des Sozialismus in Osteuropa nicht mehr ganz in die Zeit zu passen schien. Doch gleich, welche Position er vertrat, Grass blieb ein 'elder statesman' der Literatur. Ein öffentliches Gespräch von 1994 zwischen ihm und Martin Walser über die Frage der Wiedervereinigung, in der Walser eine Chance ohne Wenn und Aber sah, ist gerade deshalb so wunderbar, weil die beiden großen Autoren der westdeutschen Literatur trotz ihrer ganz gegenteiligen Meinung als zwei Freunde miteinander plaudern, als Günter und Martin, die sich aufregen können, aber nur in der Sache. Ihre persönliche Beziehung blieb davon unberührt. Das hat einen Stil, der in aufgeregten Debatten oft fehlt.

Deshalb waren auch beide keine Freunde von Marcel Reich-Ranicki, der Literatur immer ganz persönlich nahm und selten auf der Sachebene eines Textes blieb, den er besprach. Anders als Walser hat der robustere Grass nicht darunter gelitten, dass Reich-Ranicki ihn, beginnend mit der "Blechtrommel", fast immer verriss. Eine Ausnahme machte der Kritiker nur bei der schmalen Novelle "Das Treffen in Telgte", in der die Gruppe 47 (der Walser, Grass und Reich-Ranicki angehörten) in den historischen Gestalten der Schriftsteller am Ende des 30-jährigen Krieges gespiegelt wird. Selbst als Reich-Ranicki 1995, in einer publikumswirksamen Montage auf dem Titelblatt des Magazins Der Spiegel den neuen Roman "Ein weites Feld" in der Mitte durchriss (und im Innenteil, getarnt als Offener Brief, gnadenlos verriss), konnte das Grass kaum erschüttern, zumal die Verkäufe bald die Grenze der halben Million überschritten.

Grass war ein Multitalent, nicht nur als Schriftsteller, der neben den besonders beachteten Romanen zahlreiche Dramen und Gedichte verfasste. Er war gelernter Steinmetz und bildender Künstler und vergaß nie diese weniger erfolgreiche Seite seiner Produktivität. Auch führte er sie, wenn möglich, mit der literarischen Produktion zusammen, indem er die Titelbilder seiner Bücher gestaltete und Illustrationen anfertigte. "Mein Jahrhundert" von 1999, ein episodischer Durchgang durch das 20. Jahrhundert in Kurzgeschichten, erschien zugleich in einer reinen Textausgabe und einer reich illustrierten Ausgabe.

Grass war ein Kind des 20. Jahrhunderts und der Prototyp des kritischen Intellektuellen in der Nachfolge Émile Zolas, der mit seinem Offenen Brief "J'accuse !" ("Ich klage an !") 1898 die französische Öffentlichkeit über die Hintergründe der Dreyfus-Affäre informiert und damit einen ungeheuren Skandal ausgelöst hatte. Grass meldete sich häufig in Zeitungen zu aktuellen Problemen zu Wort, zuletzt allerdings mit deutlich abnehmendem Erfolg. In seinem Langgedicht "Was gesagt werden muss", das am 4. April 2012 in der Süddeutsche Zeitung, in La Repubblica und El País erschien, warf Grass Israel vor, den "brüchigen Weltfrieden" zu gefährden. Dass der israelische Innenminister ein Einreiseverbot gegen den Schriftsteller verhängte, mag sich mit den kritischen Absichten durchaus vertragen. Die Resonanz aber war insgesamt überwiegend negativ.

Zwar gibt es Autoren jüngerer Generationen, die sich kritisch in politische Diskurse einschalten, man denke an Marlene Streeruwitz, Juli Zeh oder Ilija Trojanow. Allerdings ist das für den Typus des kritischen Intellektuellen charakteristische Übergreifen aus dem Feld der Kunst und Literatur in das Feld der Politik heute nicht mehr, wie noch von den 1950ern bis in die 1970er-Jahre, die Regel, sondern die Ausnahme. Günter Grass war vielleicht der letzte deutschsprachige Autor von Weltrang, der zwar die künstlerische Autonomie als unverzichtbares Gut ansah, für den Kunst ohne Politik aber wenig Sinn machte.

Mit Preisen überhäuft

Der mit Preisen überhäufte Autor konnte es sich leisten, wählerisch zu sein. Den Ernst-Toller-Preis nahm er 2007 gern entgegen, denn der Räterepublikaner und einstmals weltberühmte Dramatiker war ein Autor nach seinem Herzen. Grass freute sich nicht nur über die Auszeichnung, er wollte helfen, dem weitgehend vergessenen Toller wieder etwas mehr Aufmerksamkeit zu verschaffen. Nach der Preisverleihung, an deren Vorbereitung ich beteiligt war, sagte der bereits 80-Jährige zu mir: "Das haben wir doch gut gemacht."

Angesichts der Leistungen dieses außergewöhnlichen Autors und trotz aller Tiefpunkte seines Lebens, private wie berufliche, kann man über ihn und seine Lebensleistung wahrlich nichts anderes sagen als: Er hat das gut gemacht. So gut, dass es keinen gibt, der ihm das nachmachen kann. Und deshalb wird er uns, auch wenn die Zeiten sich geändert haben und neue Avantgarden das weite Feld der Literatur bestellen, sehr fehlen.

| Der Autor ist Professor für Literaturwissenschaft an der Universität Koblenz |

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