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Im Stil von Günter Grass

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Es ist allerdings „Aus dem Tagebuch einer Schnecke“ betitelt und enthält nicht nur (eher wenige) Notizen, die der Schriftsteller im Wahlkampfjahr 1969, als Redner bei Kundgebungen der SPD eingesetzt, nebenher gemacht hat (bundesdeutsch konsequent sehreibt er „Es-pede“), es enthält auch, dicht eingestreut, einen chronologisch fortschreitenden Rückblick auf die NS-Zei't in Danzig, wo Grass herstammt, auf die Judenbehandlung, Judenaustreibung und Judenvernichtung dort (technisch: alles wie gehabt in den Romanen von Grass), und gerade dieser scheinbare Erzähltrick des Erfolgsromanciers der einstigen Gruppe 47 erweist sich diesmal als polemisch wohlgezielter Trick eines engagierten und in Gage genommenen souveränen Parteipropagandisten: Was er, nur so en passant, an gelinde Abfälligem über Kiesinger, Strauß oder Barzel fallen läßt, fällt einem — erst unterschwellig — auf als memento mori für ungezählte Opfer eines vergangenen Regimes, an das nun die konservative Gegen^ parte! plötzlich erinnert, ohne daß Günter Grass expressis verbis einen Zusammenhang behauptet hatte: Bloß: Sie gilt ja nun einmal für kon^-servativ, und die namentlich und zahlenmäßig belegte letale Wirkung der Vergangenheit läßt unwillkürlich jede Form von Konservierung wie eine giftige Konserve erscheinen, verführerisch etikettiert, gemeingefährlich und gesundheitsschädlich für jede Entwicklung.

Nein, diesem gefinkelten Wahlkampfredner 1969, der sein „Tagebuch“ knapp vor dem Wahlkampf 1972 herausbringt, wäre kaum ein böses Wort über die Prominenz der Gegenseite nachzuweisen;, denn wenn er gelegentlich auf Kiesingers NS-Vergangenheit anspielt oder auf die aggressive Rhetorik von Franz Josef Strauß, die verdächtigt wird, da und dort vordemokratische Gefühlsreserven zu reaktivieren, dann könnte das kein Leser als nsrsönliche Attacke eines geharnischten Parteistrategen auslegen, der uns nun auch im Nebenberuf einen Roman erzählen möchte: Grass wiederholt damit ja nur, halb so wild, was jeder Zeitungsleser sowieso weiß, weil es die Agenturen längst in alle Welt verbreitet haben, mit und ohne Kommentar. Der Kommentar bei Günter Grass besteht darin, daß er den Nachdruck solcher Meldungen voll Nachdruck (ohne etwas direkt zu behaupten) konfrontiert mit der ständigen Interpolation von NS-Greueln.

Um so erstaunlicher, daß der Autor dieses Meisterwerk politischer Diffamierung auf einem derart unpopulären Niveau konzipiert hat. Das Buch wäre also gefährlich und ist harmlos: Für 100.000 Intellektuelle geschrieben, die sowieso zum größten Teil linksorientiert sein dürften. L'art pour l'art? Einer, der diesen Autor stets für eine faszinierende, aber stark überschätzte Erscheinung gehalten hat, darf hier an eine Binsenweisheit erinnern: Das unpopuläre Niveau eines Schriftstellers muß noch lange kein hohes sein.

Das Auseinanderhalten der dreißiger Jahre und des Wahlkampfes 1969 erfordert soviel Leseraufmerksamkeit, daß man leicht übersehen könnte, wie wenig Substanz diesem Stil-virtuosen zur Verfügung steht. In der

Literatur ist Virtuosität keine Kunst, wie sehr sie auch glänzt, und Günter Grass ist ein blendender Blender. Nehmen wir sein Unternehmen einmal in Schutz: Natürlich hat es einen guten Grund, den ästhetischen und sittlichen Makel eines Wahlkampfes mit dem grausigen Makel der Vergangenheit zu vergleichen. Aber warum in so literarisch modischer, verspielter Manier, in einer aus dem Handgelenk fingierten Kurzatmigkeit, beinahe belustigt und belustigend, was doch an der Ernsthaftigkeit des ohne Zweifel beabsichtigten Ernstes zweifeln macht.

Grass weiß das alles und tut es trotzdem. Ironisch läßt er sich von einem Publikum zur Ordnung geordneten Erzählens rufen, spitzfindig repräsentiert durch die eigenen Kinder, für die das „Tagebuch“ geschrieben sein will. „ ,Immer über andere.' .Wissen wir schon.' .Erzähl mal von dir. Uber dich. Wie du bist.' .Aber ehrlich und nicht erfunden.'“ Doch Grass fährt mit dem Parteitag 1891 fort und mit der Bernsteinschnecke, um sich stürmisch unterbrechen zu lassen: „.Nein! Über dich.' ,Wie du bist, wenn du dich nicht erfindest.'

,Wie du wirklich bist.' ,Na einfach wirklich.' “ Also quasi: Gut, das sind Kinder, aber ebenso kindisch sind kritische Einwände gegen die Erzähl- und Schreibweise eines Günter Grass. Es soll exemplarisch sein, zitierte Kritik, Kritik der Kritik, vorweggenommene Antikritik. „Aus dem Tagebuch einer Schnecke“ wird tatsächlich und zoologisch haargenau Schneckenkunde gelehrt, obwohl „ich für meine Kinder — und wohl auch für anderer Leute Kinder — den Schneckenprozeß Fortschritt nachzeichnete“. Und gegen Ende läßt sich Grass kindisch ausfragen: „Und du? Machste weiter?' ,Schreibenschreiben — Redenreden?' “

Möglich, daß die Kinder von Günter Grass schon so reden, wie Günter Grass schreibt. Solche Zitierung mag drastisch und als höhnische Abwehr kritischer Fragen originell sein, als echte Antwort auf bloß fingierte Fragen bleibt sie ein stilistischer Gag. Auch das neue Buch von Grass ist interessant und so problematisch, daß sich ein Buch leichter dagegen schreiben ließe als eine gültige Kritik in Zeitungsformat.

AUS DEM TAGEBUCH EINER SCHNECKE. Von Günter Grass. Luchterhand Verlag, Neuwied und Darmstadt, 1972. 368 Seiten.

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