Für Günter Grass beginnt jetzt das Alter Titel

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40 Jahre nach der "Blechtrommel", 20 Jahre, nachdem er erstmals als heißer Nobelpreis-Tip gehandelt wurde, bekam Günter Grass doch noch den Preis. sdfsdf

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40 Jahre nach der "Blechtrommel", 20 Jahre, nachdem er erstmals als heißer Nobelpreis-Tip gehandelt wurde, bekam Günter Grass doch noch den Preis. sdfsdf

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Es ist ein Donnerstag wie jeder andere, ein Donnerstag im Oktober, und nur wenige wissen, wie sehr ein paar Leute an diesem Tag auf und ab tigern, schwankend zwischen Euphorie und Niedergeschlagenheit, wie sie auffallend unauffällig nach dem Telephon schielen, ob es nicht endlich läute, mancher aber nicht einmal seiner Familie eingestehen würde, daß er auf etwas wartet - Ich nervös? Lächerlich, warum denn? -, ja nicht einmal sich selbst. Es sind die Löwen, die da tigern, die Löwen der Literatur, soweit sie für den Nobelpreis in Frage kommen, oder dreist meinen, daß er ihnen zustehe, selbst wenn sie die einzigen auf weiter Flur sein sollten, die das meinen. Natürlich tigern auch Chemiker, Physiker und alle möglichen anderen, aber an anderen Tagen. An diesem Donnerstag tigert nur die Literatur, denn es ist der Donnerstag, an dem in Stockholm bekanntgegeben wird, wem das Nobelpreiskomitee den Literaturpreis zugesprochen hat.

Vergangenen Donnerstag war es wieder so weit. Günter Grass galt wieder einmal als besonders heißer Tip, aber das tut er ja seit Jahren. Er, nicht Heinrich Böll, war bereits der heiße Tip gewesen, als Heinrich Böll 1972 den Preis erhielt. An Böll bestätigte sich der böse Spruch, daß den Nobelpreis immer die Zweitbesten bekommen. In den Folgejahren war Grass aus der Runde der Anwärter draußen, aber je länger nach Elias Canetti (1981) kein weiterer deutschsprachiger Dichter den Nobelpreis bekam, ein desto heißerer Tip wurde wieder Günter Grass.

Denn der Nobelpreis wird traditionell, auch wenn es der Stifter sich einst etwas anders vorgestellt hat, nicht für den besten Roman des letzten Jahres, ja nicht einmal der letzten zehn oder 20 Jahre verliehen, sondern, ganz nach Gutdünken des Komitees, für ein Lebens-, oder auch nur für ein Hauptwerk. Die Begründung läßt oft nur indirekte Schlüsse auf die Motive des Komitees zu. William Goldings Hauptwerk "Lord of the flies" erschien zum Beispiel 1954, den Nobelpreis bekam er 1983. Günter Grass mußte besonders lang warten. Vielleicht, weil er eben kein Zweitbester, sondern derzeit der Beste war. "Die Blechtrommel" erschien 1959. Er hat nachher noch schöne Lyrik, zwei sehr gute Erzählungen ("Hundejahre" und "Das Treffen in Teltge") sowie einige weniger gute bis ausgesprochen schwache Romane geschrieben. Doch "Die Blechtrommel" ist, und man darf wohl schon annehmen, daß es dabei bleibt, der größte deutsche Roman des 20. Jahrhunderts nach dem Zweiten Weltkrieg. Auch wenn Marcel Reich-Ranicki auf Schwächen herumreitet, die nicht wegzuleugnen sind, über die man aber hinwegsehen kann. Das Nobel-Komitee beginnt seine Würdigung denn auch mit einem Hinweis auf den Neuanfang, den dieses Buch nach dem Zweiten Weltkrieg für die deutsche Literatur bedeutet habe. Nach meiner Ansicht, und meiner lückenhaften Kenntnis, steht es auch in der Weltliteratur auf einsamer Höhe - neben "Hundert Jahre Einsamkeit" von Grassens Jahrgangskollegen Gabriel Garcia Marquez, der, als er den Preis 1982 nur 15 Jahre nach dem Erscheinen seiner literarischen Großtat bekam, darauf schon äußerst ungeduldig gewartet hatte.

Was ein Laureat sagt, wenn er erfahren hat, daß er einer ist, das verrät, welche Spannung sich da entlädt. Grass meinte, wohl sehr ehrlich, gut 20 Jahre lang habe er als Kandidat gegolten und das Warten habe ihn jung gehalten. Nun beginne das Alter.

Doch auch nach 40 Jahren ist "Die Blechtrommel" ein singuläres Leseabenteuer. Sie ist freilich noch etwas mehr, ist auch nicht nur ein Sprachkunstwerk. Grass führt uns, doch er tut dies ja gerne, ganz schön aufs Eis, wenn er jedes politische Engagement beim Schreiben der "Blechtrommel" in einer feuchten Pariser Kellerwohnung abstreitet und darauf beharrt, nur artistisches Vergnügen, Spaß an der Sprache und am Schreiben, habe ihn dabei erfüllt. Wahrscheinlich wollte er sich nur von dem distanzieren, was die Kollegen damals unter politisch korrektem Engagement verstanden. Denn er war immer ein Widerborst. "Die Blechtrommel" ist selbstverständlich auch ein eminent politischer Roman.

Leise, ganz leise beginnt Oskar Matzerath unter der Parteitagstribüne zu trommeln, doch er bringt mit dem Donauwalzer, den er da trommelt, die Musikzüge der vorbeimarschierenden Hitlerjugend aus dem Takt, er wird lauter, die Hitlerjugend spielt immer falscher, bis der Aufmarsch im Chaos endet: Für mich ist das eine der köstlichsten Stellen des Romans.

Daß er am Beginn der sechziger Jahre tatsächlich einen Skandal entfesselte, daß Oskar Matzeraths kleine Liebesspielchen tatsächlich die Tugendwächter auf den Plan riefen, ist heute kaum mehr nachvollziehbar. Es ruft in Erinnerung, was damals in der Nachkriegsgesellschaft das Atmen schwer machte. Denn hinter der moralischen Empörung verbarg sich die Nazi-Wut auf Grass. Das eine oder das andere, beleidigte Moral oder beleidigte alte Nazis, dupierte die Jury, die Grass noch im Erscheinungsjahr der "Blechtrommel" den Bremer Literaturpreis zuerkannt hatte: Der Senat verweigerte dem neuen Großen der deutschen Literatur die Auszeichnung. Ihm selbst erwiesen die Tugendwächter den größten Gefallen, als sie ihm Anlaß für einen Prozeß boten, der mit dem Verbot endete, ihn öffentlich einen "Verfasser übelster pornographischer Ferkeleien" und etliches andere mehr zu nennen.

Für kleinere und größere Erregungen war Grass immer gut, und je schwächer seine Romane wurden, um so sprachschöpferischer rieb sich an ihm die Literaturkritik. "Kartoffelacker-Erotik" bescheinigte sie der "Blechtrommel", "Suppendampfseligkeit" dem Roman "Butt", "gerontischen Rumpelkammer-Sex" den "Unkenrufen".

Grass nahm aber negative Kritiken nie einfach hin, und wenn ihm die Kritiker Saures gaben, gab er Saures zurück. Und wenn er von der deutschen Großkritik einhellig verrissen wurde, dann nannte er eben die gesamte deutsche Großkritik blind, dumm und unfair. So geschehen nach dem Erscheinen des bislang letzten großen Romans "Ein weites Feld". Grass kann dünnhäutig und nachtragend sein: Marcel Reich-Ranickis Kritik an dem leider tatsächlich "ganz und gar mißratenen" Roman führte zum Bruch mit dem Kritiker, den Grass seit 1958 kannte. Er verübelte ihm nicht nur den Text seiner Kritik im "Spiegel", sondern mehr noch eine Fotomontage, auf der Reich-Ranicki das Buch zerriß. Man kann das jüngste "Spiegel-Gespräch" mit Marcel Reich-Ranicki über Grass übrigens als Versuch lesen, das zerschlagene Porzellan wieder zu kitten.

Nicht alle Verrisse waren gerecht. "Unkenrufe" zum Beispiel wäre gewiß als vielversprechendes Werk durchgegangen - hätte nicht ausgerechnet ER es geschrieben. Aber seit der "Blechtrommel" legten auch jene, denen die "Blechtrommel" gar nicht gefallen hatte, eine besondere Elle an ihn an, die wir einmal das "Grass-O-Meter der deutschen Großkritik" genannt haben. Dabei ist er doch auch nur ein Dichter, so wie der Mercedes auch nur ein Mercedes ist. "Unkenrufe" erwies sich als fast schon hellsichtiger Roman. Sogenannte Heimatvertriebene x-ter Generation wollen darin mit dem Scheckbuch durchdrücken, was die Politik ihrer anrüchigen Interessenvertreter nicht konnte, und den Polen die "deutsche Heimaterde" einfach abkaufen. Genau dies passierte wenige Monate nach dem Erscheinen des Romans. Nur, daß es in der Realität noch etwas brutaler zuging. Günter Grassens Unkenrufe wurden von der Wirklichkeit überquakt.

Mitunter überquakte aber auch der homo politicus Günter Grass höchstselbst den gleichnamigen Dichter. Die Bitte um ein politisches Statement konnte er selten abschlagen, und nicht alles, was er von sich gab, war vernünftig. Wobei der Sozialdemokrat Grass vor allem mit seiner Kritik an der deutschen Wiedervereinigung vielen auf die Zehen trat. Geteilt waren denn auch nach der Nobelpreis-Nominierung die Meinungen, und manches Ressentiment äußerte sich unüberhörbar.

Frühere Nobelpreisträger stellten sich mit Lob ein, der Vorjahres-Preisträger Jose Saramago ebenso wie Kenzaburo Oe (1994), Nadine Gordimer (1991), Wole Soyinka (1986), Czeslaw Milosz (1980), aber auch Salman Rushdie und viele andere. In den Medien hingegen kann Günter Grass auch manche mehr, weniger oder gar nicht unterschwellige Bosheit nachlesen, im "Daily Telegraph" zum Beispiel, er sei eine politisch naive literarische Eintagsfliege, in der "Berliner Zeitung", er sei eine Art Olof Palme der Literatur, was immer das sein soll, während Iris Radisch, Literaturredakteurin der "Zeit", im Fernsehen erklärte, Grass habe der jüngeren Generation nichts mehr zu sagen. Wirkt der politische Zeitgeist auf das literarische Urteil im Feuilleton zurück? Und auf welche Art Zeitgeist lassen solche Statements schließen?

Auch Dümmliches war zu lesen. Zum Beispiel im "Secolo d'Italia", dem Parteiblatt der rechten "Alleanza Nazionale", die Nobelpreis-Akademie sei eine Sektion der Kommunistischen Internationale und der Nobelpreis für Grass "lächerlich und unangebracht". Der in Niederösterreich lebende deutsche Autor Herbert Achternbusch, den noch niemand für nobelpreisverdächtig gehalten hat oder je halten wird, konnte sich nicht zurückhalten und meinte: "Das Mittelmaß setzt sich durch, da kannst nichts machen."

Den liebsten Hausfeind Günter Grass', Marcel Reich-Ranicki, zitierte der "Spiegel" folgendermaßen: "Ich habe die Nachricht, daß Grass den Literatur-Nobelpreis erhält, im Taxi vom Züricher Flughafen zum Hotel gehört und habe zu meiner Frau, die neben mir saß, gesagt: Na also, endlich! Es ist gut so, daß er den Preis bekommen hat ... Stellen Sie sich vor: Martin Walser wäre der Preis zugefallen, das wäre ein schwerer Schlag für mich. Oder gar dem dümmlichen Peter Handke! Eine Katastrophe! In Stockholm ist allerlei möglich. Grass - immerhin!"

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