Fern von Schlafrock und Tabakspfeife

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Vor genau 100 Jahren starb Theodor Fontane, der nicht nur ein großer Dichter und Romanautor, sondern auch ein blendender Aphoristiker war.

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Vor genau 100 Jahren starb Theodor Fontane, der nicht nur ein großer Dichter und Romanautor, sondern auch ein blendender Aphoristiker war.

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Er wußte, wovon er sprach: jahrzehntelanges Geldverdienen als Journalist, um die Familie zu ernähren; das Gefühl des Eingesperrtseins in die Verhältnisse; eine spießige, nervenaufreibende Epoche, in der er zu leben hatte. Theodor Fontane, mit seinen französischen Vorfahren, der jahrelang in Großbritannien gelebt und gearbeitet hatte, mußte das großmäulige Gehabe der deutschen Neureichen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts mit seinem schrecklichen Provinzialismus anwidern: "Gott, was krabbelt doch alles unter dem Namen ,Mensch' auf dem Erdball herum", entfuhr es ihm einmal.

Spät, erst mit 56 Jahren, konnte er das tun, was er wollte, nämlich Romane schreiben. Was auf den Erstling, "Vor dem Sturm", bis zu seinem Tod am 20. September 1898 folgte, hält auch für den heutigen Leser vieles bereit, was die Lektüre lohnt: "Frau Jenny Treibel"; "Effi Briest"; "Der Stechlin": bissige, scharfsichtige Kommentare, glänzende, aber auch bestürzende Analysen seiner Zeit, Preußens und des Berliner Treibens, darüber hinaus viel "Menschliches, Allzumenschliches". Und doch hat ihm die Literaturkritik onkelhafte Züge verliehen und in ihm einen harmlosen Gemütsmenschen sehen wollen, der heiter über allem steht. Die viel zu oft zitierte Bemerkung über das Leben, die er einer seiner Gestalten in den Mund legte, "dies ist ein weites Feld", wurde gnadenlos auf ihn angewendet. Aber Fontane hat das weite Feld des Lebens genau inspiziert und es nur erträglich gefunden, weil er Humor, Selbstironie und Weltläufigkeit besaß.

Der Beweis dafür: ein kleines Büchlein, es paßt in jede Damenhandtasche, in jedes Männersakko, ist höchst empfehlenswert für lange Bahnfahrten, Krankenhausaufenthalte, langweilige Strandtage oder ein stilles Stündchen zu Hause: "Alles kommt auf die Beleuchtung an. Fontane zum Vergnügen." Der Herausgeber, Christian Grawe, hat sich die Mühe gemacht, aus Fontanes Romanen, Gedichten und vor allem seinen Briefen ein Brevier zusammenzustellen. Es ist sicher besser als alle Gedenkartikel, die über den großen deutschen Erzähler in diesen Tagen anläßlich seines 100. Todestages erscheinen: "... in der Literaturgeschichte scheint die Sonne über Gerechte und Ungerechte; jeder kriegt seine zwei Zeilen."

Fontane hat kein Aphorismenbuch veröffentlicht, und doch ist er einer der größten deutschen Aphoristiker. Seine schlagkräftigen, oft paradox formulierten Bonmots sind eingebaut in Romandialoge und blitzen in den Briefen auf. Anders als Goethe, Friedrich Schlegel oder Novalis, die in kurzen Fragmenten metaphysische Zusammenhänge abstrakt-philosophisch reflektierten, ging es Fontane ums Lebenspraktische: Kinder und Familie, Ehe und öffentliches Leben, die Dummheit von Politikern, ums Reisen und Altwerden, Kunst und Krankheit, schließlich um Grundsätzliches wie Neid und Liebe, Glück und Unzufriedenheit: "Mit der Zeit kommt alles, Orden - Titel - Tod." "Eigentlich ist es ein Glück, ein Leben lang an einer Sehnsucht zu lutschen", "Das Leben, Gott sei Dank, ist kein Tummelplatz großer Gefühle, sondern eine Alltagswohnstube, drin das sogenannte Glück davon abhängt, ob der Ofen raucht oder guten Zug hat." "Liebe ist gut, aber sie läßt sich nach Minuten berechnen, alles andere hat lange Stunden."

Ist hier Fontanes französisches Erbe spürbar? Knüpft er bewußt an die klassische französische Kunst des aphoristischen Denkens über den Menschen in der Tradition Pascals an? Jedenfalls herrscht bei ihm wie bei den großen französischen Aphoristikern der leichte Ton vor, die umgangssprachliche Formulierung; auch große Einsichten kommen nicht auf Stelzen daher: "Sich oft sehen und plaudern und gegenseitig besuchen, ist eine Freude; zusammenleben ist immer eine Gefahr." Gilt das auch für die Ehe? Bei Fontane ist der Widerspruch nicht ausgeschlossen. So läßt sich der eben zitierten und heute so vielfach praktizierten Bindungsscheu ein anderer Gedanke entgegenhalten: "Man muß sich untereinander helfen, das ist eigentlich das Beste von der Ehe. Sich helfen und unterstützen und vor allem nachsichtig sein und sich in das Recht des anderen einleben. Denn was ist Recht? Es schwankt eigentlich immer. Aber Nachgiebigkeit einem guten Menschen gegenüber ist immer recht." Selbst diesem schönen Bekenntnis zur ehelichen Toleranz kann man eine andere Stelle aus der gleichen Feder entgegenhalten: "Wenn es aus Liebe und in richtiger Weise geschieht, so haben kluge Frauen die Pflicht, die Eitelkeiten ihrer Männer zu verletzen. Dadurch, daß sie dem Hündchen immer mehr Zucker geben, wird es nur belliger, reizbarer und unerträglicher."

Fontanes Humor ist undeutsch: Keineswegs versponnen wie jener Wilhelm Raabes, auch nicht verschnörkelt, pittoresk, provinziell oder beschaulich wie der Jean Pauls. Scharfsichtig bemerkte er: "Den meisten deutschen Schriftstellern merkt man den Schlafrock und die Tabakspfeife an." Er packt zu, direkt und ohne jede sprachliche Vertracktheit. Man merkt bei ihm, daß er den großen englischen Gesellschaftssatiriker William Thackeray gelesen hat. Die Menschen und ihre Bedürfnisse, Besorgnisse und Begierden erscheinen Fontane vielfach zum Lachen, wenn nicht sogar lächerlich: "Auf seine Verdienste hin angesehen, verdient jeder gehenkt zu werden." "Jede Frage, auch die größte, interessiert die Menschen nur drei oder fünf oder sieben Tage, dann ist es vorbei ..." "Was wir Liebe nennen, ist alles mögliche, nur meist nicht Liebe, was wir Bekenntnistreue nennen, ist Rechthaberei."

Fontane zum Vergnügen lesen: Das ist keine behagliche Sache, sondern ein sanftes Gezwungenwerden zum unverstellten Blick in den Spiegel. "Nur die scharfe Zeichnung, die schon die Karikatur streift, macht eine Wirkung." Und doch geht von seinen geschliffenen Worten eine tröstliche Wirkung aus. Im Licht dieses hellen Geistes, dem nichts zur Phrase verkommt, erobert sich der Leser selbst eine neue Unabhängigkeit des Denkens. Und er begreift: Einer, der denken kann, kann 100 Jahre tot sein, er hat noch immer eine Stimme. "Die Jahre bedeuten gar nichts. Wer dumm ist und nichts gelernt hat, faselt mit siebzig geradeso wie mit siebzehn."

"Alles kommt auf die Beleuchtung an." Fontane zum Vergnügen.

Herausgegeben von Christian Grawe. Verlag Philipp Reclam jun., Stuttgart.

180 Seiten, öS 51,

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