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Im Hafen warten die Alt cn...

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Wenn die Leute in der Abenddämmerung am Kai des Hafens entlang spazieren gingen, trafen sie regelmäßig, bei jedem Wetter und zu jeder“ Jahreszeit, einen sehr alten Mann in zerschlissenen Kleidern und mit einer alten Kapitänsmütze, zerfurchtem, von Rinnsalen durchgepflügtem Gesicht und hervorquellendem, unordentlichem, weißem Haar, pfeiferauchend an einem Pfosten lehnend, der mit hellen, etwas verblaßten Augen unentwegt und gleichsam störrisch über das Meer blickte und am Horizont nach etwas Ausschau zu halten schien.

Die Leute lächelten über ihn oder grinsten anzüglich und gingen vorbei, mit eigenen Angelegenheiten beschäftigt. Kapitän Bredersen beachtete sie nicht. Ihm entging seit langem das meiste. Er stand am Kai und blickte bei jedem Wetter westwärts, mit seinen alten Augen, die ein Leben auf See gebleicht hatte und die dennoch immer scharf waren. Er war so alt, daß man nicht einmal im Seemannsheim, wo er Zuflucht gefunden hatte, genau wußte, wie alt er war. Er selbst hatte es 'angst vergessen wie das meiste. Sein ehemals weites, bewegtes und abenteuerliches Leben, das Leben eines alten Fahrensmannes, war nun sehr eng geworden, zwischen dem Kai und dem winzigen Zimmerlein wechselnd, das er im Seemannsasyl bewohnte.

Kapitän Bredersen stand am Kai und wartete; seit vielen Jahren stand er da und starrte sehnsüchtig westwärts. Worauf wartete der uralte Mann? Sein einziger Sohn war einst auf der „Arizona“ ausgelaufen. Es hatte böse Worte und Schlimmeres gegeben, denn der Alte hatte seinen Jungen nicht auf See lassen wollen, und sie waren im bösen geschieden. Der damals junge Kai Bredersen hatte seinem Vater geschworen, er werde an einem kommenden Tage auf eben dieser „Arizona“ als Steuermann einlaufen. Er hatte nie geschrieben. Wer weiß, ob er noch lebte. Die Möven hatten seither viele Male Junge gehabt. Und nun stand der alte Kapitän Bredersen seither am Kai und wartete, daß sein Sohn als Steuermann der „Arizona“ einlaufen würde.

Kapitän Bredersen steht und starrt, das Meer rauscht und rauscht und singt, und in seinem alten Kopf geht ein verwehter und verlorener Widerhall von einem Leben auf der See um, die Vögel kreischen und sehnsüchtig klingen die Signalu. fern vorübergleitender Dampfer an sein altes, schwerhöriges Ohr.

Wer nimmt nun teil an diesem traurigen und lächerlichen Idyll eines ausrangierten, abgedienten, alten Seebären? Wer bekümmert sich überall in der Welt um die rührenden und seltsamen fixen Ideen uralter Leute, aus denen sie oft allein noch die Kraft zum Leben saugen? Auch, wohl niemand! Doch, halt! Steuermann Lumme, selbst neunzigjährig, einstmals gefahren unter Kapitän Bredersen, ein Leben lang, zwischen Hamburg und Haiti, zwischen Le Havre und La Guayra, zwischen Tananarivo und Kapstadt; Steuermann Lumme kümmert sich um seinen alten Kapitän und seine fixe Idee, die ihn am Leben erhält.

„Wenn der Junge erst da ist, auf der Arizona' und als ihr Steuermann, da? wird dann ein Fest und ein Leben! Dann stellen wir die ganze verdammte Bude hier auf den Kopf!“ So knurrt Steuermann Lumme zu Kapitän Bredersen, wenn sie abends im Heim beisammen sitzen und Karten spielen. Und auch Lumme hat einen Jungen auf See. Der aber ist als Erster Nautischer Offizier ausgelaufen und hatte die Seemannsschule gemacht, und er kam auch öfter heim und brachte seinem alten Vater etwas aus fernen Ländern mit, und manchmal kam auch ein Brief von ihm an. An jenen Tagen, da ein Brief für Steuermann Lumme ankam, hatte Kapitän Bredersen einen bösen Tag, die Pfeife schmeckte ihm nicht, und er ging murrend und fluchend umher. Denn für ihn kamen keine Briefe an. Steuermann Lumme gewöhnte sich denn auch daran, mit seinen Briefen sehr geheimnisvoll umzugehen, denn nichts lag ihm ferner, als seinem alten Kapitän Kummer bereiten zu wollen. Ach, Steuermann Lumme hatte ja auch so seine Gedanken und seine verschwiegene Sehnsucht. Eines Tages, so hoffte er, eines Tages würde doch auch sein Sohn genug von dem unsteten Leben und der ganzen christlichen Seefahrt haben und eine nertte, junge Frau heiraten, seßhaft werden und sich an Land ansiedeln. Steuermann Lumme freute sich ganz geheim darauf, noch einem blonden Enkel durchs weiche Flaumhaar streichen zu können. Und er bewahrte in seiner Matratze sorgsam ein mit Pergament um-hülltes, sorgfältig verschnürtes, geheimnisvolles Päckchen auf, für den Fall, daß sein Sohn, der Seefahrt müde, sich an Land anzusiedeln gedächte.

Nun ist der Mensch ein ungemein zählebiges und in dieses fragwürdige Diesseits verbohrtes Geschöpf. Er kann sein abgenutztes Lebensfädchen schier endlos dehnen und ziehen, um einer Hoffnung, um einer Sehnsucht willen. Aber einmal hat es doch ein Ende, knacks sagt das Fädchen, und reißt, das Lämpchen raucht und verlöscht, und es hat zu Ende geleuchtet. Es ist dunkel.

Und so kam es, daß auch bei Kapitän Bredersen das Flämmlein ganz niedrig zu brennen begann und sich anschickte, auszulöschen. Ein paarmal hatte sich der uralte Mann noch unter Aufbietung seiner letzten Kräfte, von Steuermann Lumme begleitet, zum Kai geschleppt, um nach Westen auszulugen. Dann ging es nicht mehr. Jetzt lag er in seiner ärmlichen Kammer ganz still und leise röchelnd im Bett und Steuermann Lumme saß neben ihm. Die Fliegen summten im Raum, und von fern her tuteten die Küstendampfer sehnsüchtig und verloren an die ertaubenden Ohren des sterbenden Seemanns. Hie und da sah er ängstlich und fragend seinen alten Steuermann an, dann nickte dieser und sagte mit Zuversicht; „Er kommt heim, der Junge, kommt ganz sicher heim, auf der .Arizona' und als Steuermann! Da können wir uns darauf verlassen. Der hält, was er verspricht!“ Und dabei dachte Lumme so nebenher auch ein wenig an seinen eigenen Jungen, von dem seit vielen Wochen gar keine Post mehr angelangt war.

Und die Stunden vergingen. Dia Fliegen summten, die Dampfer tuteten, und manchmal trat, gebückt und nach Tabak riechend, ein uralter Matrose herein, der einst unter Kapitän Bredersen und mit Steuermann Lumme gefahren war, und machte dem sterbenden Alten einen kleinen Besuch. Und dann war es wieder still und Kapitän Bredersen röchelte leise. Und Freund Hein strich leise ums Haus.

Aber seht, da lag nun Kapitän Bredersen, unter Brüdern hundert Jahre alt, fast taub und ziemlich verdummt, und starb immer noch nicht. Er röchelte und sah seinen alten Steuermann fragend und flehend an, und wartete, daß sein Sohn heimkehren würde, damit er sich mit ihm aussöhnen könnte. Nun hatte Steuermann Lumme wirklich ein Leben lang viel Geduld mit seinem Kapitän haben müssen. Aber jetzt wurde es ihm doch zuweilen etwas viel. Wenn der Alte einschlief, stahl der andere Alte sich von ihm fort, ging zum Hafen hinuter, um etwas frische Luft zu schöpfen und auf andere Gedanken zu kommen. Denn er war schließlich erst neunzig und konnte vom Leben noch etwas erwarten!

Seht, da begegnet Steuermann Lumme an einem Abend im Nebel und unter dem schwankenden Licht der Hafenlaternen einem betrunkenen Matrosen, der ihm bekannt erscheint. Sicher, denkt er, ist dieser von einem der beiden Südamerikaner, die heute früh festgemacht haben und morgen gelöscht werden sollen. Und wie er dem Menschen nachgeht, da hat Steuermann Lumme ein großes Erlebnis. Denn seht, es war Kapitän Bredersens Sohn, der da heimgekommen war, nicht auf der , Arizona“ und nicht als Steuermann, sondern verkommen, versoffen, verelendet und gestrandet.

Diese Begegnung wirkte aufs höchste verwirrend und verstörend auf Steuermann Lummes alten Kopf. Er ging dem Murmelnden, Taumelnden nach. Und er fand heraus, auf welches Schiff er gehörte. Da aber jener viel zu betrunken war, als daß man mit ihm ein vernünftiges Wort hätte reden können, wandte sich Steuermann Lumme wieder heimwärts, selber murmelnd und durchaus aus dem Gleichgewicht gebracht. Und daheim fand er dann noch einen Brief vor. Da holten sie ihn und sagten, es ginge mit Kapitän Bredersen nunmehr zu Ende. Steuermann Lumme, aschfahl und mit zitternden Knien, ging in die Kammer seines alten Schiffsherrn und setzte sich neben sein Bett. Und tatsächlich, Kapitän Bredersens Nase war spitz geworden und sein Röcheln sehr störend.

Steuermann Lumme saß da und blickte den Sterbenden an. Er sah ihn unverwandt an und in seinen Augen lag eine abgründige Traurigkeit. Aber gegen Mitternacht, und als der Kapitän unruhig zu werden begann, da erhob sich Lumme hastig, eilte in seine Kammer, riß das Bett auf, holte sein Päckchen hervor und öffnete es. Lauter schöne Banknoten rieselten daraus hervor. Mit eiligen, Weinen Greisenschritten lief Steuermann Lumme aus dem Haus. Er weckte einen Bekannten, der ein großes Geschäft für Seemannsausrüstungen besaß, kaufte Kleider und allerhand Dinge, damit belud er sich und rannte, so schnell es ging, zum Hafen. Dann verschwand er in einem der Südamerikaner.

Nach zwei Stunden geschah das Folgende: Mit Kapitän Bredersen ging es definitiv dem Ende zu. Der Arzt hatte ihn endgültig verlassen. Da trat aber Steuermann Lumme, übernächtig, ausgepumpt, zitternd, aber doch mit einer gewissen Großartigkeit in die Türe und rief laut: „Kapitän Bredersen, es ist so weit! Die .Arizona' ist eingelaufen! Dein Junge ist da!“ Der Sterbende verstand nur mühsam. Da aber trat auch der Junge herein, Kai Bredersen, als fescher Steuermann, mit dem Gelde des Steuermanns aufgeputzt, umarmte seinen Vater und alles war gerührt. Er stand da, ein echter, ein vollkommener, ein tadelloser und polierter Steuermann, und Kapitän Bredersen, der schon halb hinüber war, kam sichtlich wieder zu Kräften, Steuermann Lumme aber schlich sich davon.

Ja, und seht, sollte man es für möglich halten? Kapitän Bredersen erholte sich nochmals, wurde wieder gesund und konnte am Arm seines Sohnes zum Hafen hinunter wandeln, von Stolz gebläht. Er starb nicht. Er strebte eifrig und fröhlich einem biblischen Alter entgegen. Kai. Bredersen seinerseits ging als fescher Steuermann umher, tat groß und gab Geld aus, und alles mußte Steuermann Lumme bezahlen und obendrein den jungen Bredersen, der gar nicht mehr so jung war, am allzu vielen Trinken hindern. Ja, Steuermann Lumme hatte sich da etwas Schönes aufgehalst!

Ja — warum tat er das nun alles, Steuermann Lumme? Ach, es geschah aus Treue und Anhänglichkeit, Mitleid mischte sich hinein, denn er war nun einmal ein Leben lang unter Kapitän Bredersen um die Welt gefahren! Freilich, er hatte sein Geld für andere Zwecke aufgespart, als daß es ein junger Trunkenbold, der seinem alten Vater eine Komödie vorspielte, vergeudete. Es sollte für Lummes Sohn sein, wenn er heimkehren und seßhaft werden würde. Steuermann Lumme hatte sich doch so sehr darauf gefreut, einem blonden Enkel dereinst durchs Flaumhaar streichen zu können. Daraus wurde nun freilich nichts. Denn in jenem Brief hatte damals gestanden, daß Steuermann Lummes Sohn auf See geblieben war. Und damit hatte das Pergamentpäckchen in der Matratze seinen rechten Sinn verloren. Denn Steuermann Lumme selber war ja neunzigjährig und äußerst anspruchslos, was er brauchte, dafür wurde im Seemannsheim gesorgt, dort, im Asyl, wo auch Kapitän Bredersen dem Alter Methusalems entgegenstrebte und der sich förmlich fortwährend verjüngte, seit sein Sohn wieder da war. Ja, mit Steuermann Lummes Geld wurde Kai Bredersen seßhaft und kaufte sich eine Gastwirtschaft. So hatte er fortan alles im eigenen Hause, woran sein Herz hing. Aber Friede auch ihm, dem verlorenen Sohn. Denn auch wir anderen und alle laufen wohl nicht auf den Schiffen ein, auf denen wir einstmals ausgefahren sind, und wer bringt es hier schließlich auch zum Steuermann! —.

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