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Ort subtiler Begegnungen
„Alles scheint zu sein, was es scheint”, dieser Satz aus einem in der zehnstündigen Non-Stop-Le-sung zwanzig österreichischer Schriftsteller vorgetragenen Text Elfriede Czurdas bezeichnet treffend jenes seltene Gefühl tieferer Bindungen, das die tausendjährige Fluß-, Terrassen-, Kirchen-und Universitätsstadt Marburg ihren dichtenden Gästen vermittelte. Von Friederike Mayröcker zum Hotelfrühstück eine Vitamintablette angeboten zu erhalten, Barbara Frischmuth Gastfreundschaft für ihren zwölfjährigen Sohn im Fall ihrer Vortragsreisen anzubieten, den stark hustend seine italienischen und Todesgedichte vorlesenden Gerald Bisinger gründlich nach seiner Gesundheit zu fragen und Klaus Hoffer mit fast zwei Jahren Verspätung das Bedauern über die nicht genutzte Chance einer Podiumsdiskussion in Graz auszusprechen, den Linzer Bürgermeister Hugo Schanovsky als pak-kenden Lyriker kennenzulernen— mit ihm das Bekenntnis des Glücks in dieser unbedingten Arbeit auszutauschen —, aus Jutta Schütting beim Abendessen plötzlich die Professorin hervorzubrechen zu sehen, als sie die mitreisende Tochter des Verfassers streng befragte, ob sie etwa die Schule schwänze... diese winzigen, aber signifikanten Zeugnisse gegenseitigen Öffnens sensibler Einzelarbeiter seien froh festgehalten.
Gedankt sei den Initiatoren, die diese Begegnung in der Alten
Universität Marburgs ermöglichten: vor allem dem Vorsitzenden der Neuen literarischen Gesellschaft Ludwig Legge, dessen Umsicht der großen Veranstaltung den zugleich öffentlich wirksamen und bergenden Ablauf sicherte. Seiner schöpferisch unbekümmerten Auswahl der Eingeladenen ist eine Repräsentanz von anerkannten Werken bis zu interessanten Texten noch „ungedruckter” Autoren zu danken.
Hundert bis hundertfünfzig unermüdliche, sachkundige Zuhörer verbrachten viele Stunden in Wandelgängen und Aula bis zur spätabendlichen Schlußdiskussion unter der Leitung von fünf deutschen und österreichischen
Germanisten. Daß die österreichische Literatur ihren Ton gefunden habe, sei in diesen Lesungen deutlich geworden. Aber habe sie auch ihren Stoff? Diese Herausforderung wurde einhellig aufgegriffen: österreichische Germanisten verwiesen auf die subtile Brechung der Stoffe in subjektiven Geschichten (beispielsweise Nationalsozialismus und Krieg im „Wunschlosen Unglück” Peter Handkes). Michael Scharang wies schließlich nach, daß erst sprachliche Leistung jedem Inhalt (Kunst-)Wert verleihe. Die Anerkennung österreichischer Vorbildleistung im deutschen Sprachraum sei daher nicht unverdient.
Zwei bemerkenswerte Schlußsätze des Marburger Germanisten Wilhelm Solms: Boll habe den Nobelpreis für seine moralische Position, nicht für seine Sprachführung bekommen, das könne Österreichern nicht passieren... Und „er sei überwältigt”, diesen emphatischen Satz sprach Solms gänzlich tonlos, emotionslos, ohne entsprechende Mimik zwischen zwei langen Pausen, aus: zu empfinden als vielleicht beabsichtigte nonverbale Reverenz.
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