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Die Philosophie der Harlekine

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Rio Preisner, Jahrgang 1925, Germanist, dissertierte 1950 in Prag über Werfel. Das 1961/1962 entstandene Nestroy-Buch, welches 1968 zuerst in der CSSR und nun in der Bundesrepublik Deutschland erschien, hätte Preisners Dozentenlaufbahn an der Prager Universität einleiten sollen; nun wird er aber Uber Osterreich nach Amerika gehen und dort eine Professur antreten.

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Rio Preisner, Jahrgang 1925, Germanist, dissertierte 1950 in Prag über Werfel. Das 1961/1962 entstandene Nestroy-Buch, welches 1968 zuerst in der CSSR und nun in der Bundesrepublik Deutschland erschien, hätte Preisners Dozentenlaufbahn an der Prager Universität einleiten sollen; nun wird er aber Uber Osterreich nach Amerika gehen und dort eine Professur antreten.

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Auch heute noch ist jede Studie über Nestroy den Forschungen Otto Rommels, vor allem seinen Untersuchungen im fünfzehnten Band der historisch-kritischen Gesamtausgabe von 1930 und dem ersten der sechs Bände der Auswahlausgabe von 1948/49, tief verpflichtet. Die meisten Autoren beschränken sich auf Umstellungen und Akzentverschiebungen im dargebotenen Material. Trotz der großartigen Pionierleistung Rommels darf aber nicht übersehen werden, daß noch so manche Leseart der Gesamtausgabe anfechtbar, daß die verwendete Sekundärliteratur nicht immer ersten Ranges ist, und daß schließlich noch einige Fragen über die Autorenschaft Nestroys, sowohl was Zu- als auch Aberkennung betrifft, offen sind.

Preisners philosophische Analyse des Nestroywerkes — nicht immer eine Analyse von Nestroys Philosophie — ist in ihren tief- und weitreichenden Querverbindungen viel eher von den historisch-politischen, soziologischen und natürlich den philosophischen Erkenntnissen abhängig als von den Tatsachen der Volkstheaterforschung. Aber auch er mußte sich, was das Material betrifft, notgedrungen Rommels Leistungen und Mängeln anschließen. (Wobei weder „Hoffmannsthal“ und Clemens „Hoffbauer“ noch die häufige Verwechsfang der Salome Pockerl im Talisman oder die Annahme, Carl und nicht Schuster sei der repräseäe; tative Staberldarsteller gewesen, bei Rommel zu finden sind.) Im ersten Kapitel, über die künstlerische Situation, nimmt Preisner Herrn von Guradelhuber, die Hauptfigur der Posse „Eine Wohnung ist zu vermieten...“ (1837) zur Zentralgestalt und macht ihn zum Repräsentanten des Vormärz, zu einem soziologischen Typus, der sich zwischen den Extremen des Maniok in „Affe und Bräutigam“ und des Übermenschen Holofernes der Hebbel-Parodie bewegt. Herr G. ließe sich jedoch ebensogut als zeitungebundener österreichischer Typus sehen. Aus diesem Kapitel sei noch die trefffend gegenübergestellte und charakterisierte Eigenart Raimunds und Nestroys erwähnt. Der wesentlichste Teil des Buches beschäftigt sich aber im zweiten Kapitel mit der Entwicklung der Nestroyschen Posse: Im Gegensatz zu Rommel, der in erster Linie die schauspielerische Entwicklung des Wiener Satirikers beleuchtet und auf das dramatische Werk überträgt, geht Preisner primär vom Stück aus, konzentriert sich aber ebenfalls — ganz zu Recht — auf die jeweilige Hauptgestalt, die ja Brennpunkt der schauspielerischen und dramatischen Größe Nestroys ist.

Nach Uberwindung des Zauberstückes durch die tragische Posse (1828 bis 1840) findet Nestroy nach zwei Anläufen zu ihrer Umwertung durch „Motive des Herzens“ im Volksstück (1841 bis 1844 sowie 1851 bis 1852) und Auseinandersetzungen mit den Revolutionsideen (1844 bis 1849) zur tragischen Posse zurück, „In der er jene dramatische Form erkannte, die dem modernen Zerfall der Werte am meisten gewachsen war. Die Tragödie der tragischen Posse bestand jedoch darin, daß sie größtenteils unverstanden blieb. Ja, man kann sagen, daß die Posse vor allem darum als tragische bezeichnet wird, weil sie in einer Welt entsteht, idle.>}adfir Fähigkeit barnist, sie>zu begreifen, genauer: zu begreifen, daß ihre Tragik eben im Nichtbegreifen des Tragischen von seiten einer Welt besteht, von der sie abhängig ist. Ihr Los ist kassandrisch — sie findet niemand, dem sie ihr Leid klagen könnte, und ihr vergebliches Umhergehen wird zur Quelle eines unaufhörlichen Gelächters, womit sie dann ihr Handwerk bestreitet. Dieses Gelächter gilt allerdings weder ihrem Leid noch ihrem vergeblichen Umherirren, es gilt der Posse, die aus dieser zweifachen Nichtmitteilbarkeit als Frucht einer neuen Qualität hervorwächst. Daß die Zuschauer nur über die Posse und nicht über ihr eigenes Leid lachen, macht sich letzten Endes die tragische Posse zum Ziel, denn auf diese Weise kommt das Menschliche unversehrt davon und bleibt dank der Unkenntnis und dem Mißverständnis erhalten... Die tragische Posse ist der folgerichtigste dramatische Ausdruck der Ausweglosigkeit durch ihr vielsagend stummes und vergebliches Umherirren ... Daß Nestroy in Wirklichkeit am Anfang einer Epoche des neuen modernen Theaters steht, daß sein Einfluß noch bei den Dramatikern in der Hälfte des 20. Jahrhunderts spürbar wird, dies ahnte natürlich damals noch niemand“ (Seite 177/178). Eingeklemmtheit, Entmenschlichung und vor allem das Marionettenhafte sind Termini, die im Zusammenhang mit der „tragischen Posse“ immer wieder vorkommen. Die Exkurse über Maske, Resignation und besonders Preisners Philosophie der Marionette und des Marionettenhaften tragen zum Verständnis der tragischen Posse bei, vor allem, wenn man die drei an den Schluß gestellten Abhandlungen vor dem Studium des Hauptkapitels liest. Es ist nicht ganz verständlich, warum Preisner, der ja Marionette meist im übertragenen Sinne aufzufassen scheint, in seiner Fragestelfang die „Automaten“ der Romantik, besonders bei E. T. A. Hoff mann, so vernachlässigte. Preisners Buch ist keine einfache Lektüre, hat aber den großen Vorteil, trotz der „Unübersetzbarkeit Nestroys“ einen wichtigen Beitrag, ihn über das lokale Blickfeld heben, geleistet zu halben. Die überaus interessanten Einblicke sind sicher wichtige Disikussionspunkte für künftige Nestroyforscher.

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