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Die helle Freude eines Professors

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Das Elend der Wissenschaft im mittleren Europa unseres Jahrhunderts wird deutlich, wenn man ein Buch betrachtet, das um 1940 fällig gewesen wäre und eben erst herausgekommen ist.

1937 erschien in einem obskuren Wiener Verlag und bald darauf in einer Buchgemeinschaft eine einbändige Nestroy-Auswahl mit einer bedeutenden Einleitung von Franz Mautner. Wer sich seither für Nestroy interessierte, kannte und schätzte Mautners Essay als ein sehr frühes kompetentes Zeugnis der Wertung Nestroys als Komödienschreiber von weltliterarischem Format, wußte aber nichts von seinem Autor, bis man ihn als Professor in Swarthmore (Pennsylvania) lokalisieren und gelegentlich auch als Besucher Europas begrüßen konnte. Er hatte sich, erfuhr man, auf Lichtenberg spezialisiert und, wie er berichtete, „seit 1938 im Exil“ getrachtet, „den Germanisten Amerikas den unbekannten .Wiener Lokaldichter'“ Nestroy „vorzustellen und verständlich zu machen“.

Dies war gewiß verdienstvoll, doch hätte auch in unserer Hemisphäre neben dem Nestroy-Propheten Karl Kraus und Nestroys Kochel Otto Rommel ein großer Nestroy-Interpret vom Rang Mautners notgetan und segensreich gewirkt.

Die große Nestroy-Renaissance unserer Zeit wurde nicht geplant und nicht wissenschaftlich unterbaut, sie stützte sich lediglich auf die große Rommel-Gesamtausgabe (1924—1930). Sie hatte ihre Höhepunkte in den Gedenkjahren 1951 und 1962, sie darf als einzigartig in der Theatergeschichte angesprochen werden, sie griff von den bekannten auf zahlreiche verschollene, zu Nestroys Zeit erfolglose Komödien über und von Österreich aus bis an den Rand des deutschen Sprachgebietes, sie hält derzeit bei fünfundvierzig seit 1945 wiederaufgeführten, vorwiegend abendfüllenden Stücken. . Nestroy-Literatur und Nestroy-Forschung haben mit dieser elementaren Entwicklung nicht Schritt gehalten, die Dissertationen nahmen zögernd zu, Nestroy-Nester gibt's an den Universitäten Wien, Graz, Frankfurt und in Münster, die Buchpublikationen befremdeten gelegentlich durch marxistoide Tendenz, die rororo-Monographie ist informativ, aber trocken. Einzig Kurt Kahls „Johann Nestroy oder Der wienerische Shakespeare“, hundertacht Jahre nach Nestroys Tod erschienen, erfüllte endlich den Wunsch nach einer lesens- und schätzenswerten Nestroy-Biographie.

Da kommt nun, seit Jahren erwartet, endlich, umfangreich und gewichtig, Mautners „Nestroy“ zu uns und nimmt sogleich für sich ein, wenn der Autor in der ersten Zeile seines Texts „Jahrzehnte heller Freude an Nestroys besten Stücken“ als Quelle für seine Arbeit angibt. Bei aller Wissenschaftlichkeit und Bindung an die Hierarchie der Nomenklaturen ist Mautners Monographie engagiert, subjektiv und unakademisch: Welcher andere Germanist würde seinem Gegenstand nach-*ühräferi, daß dessen Sprache sich „mitten im Dialog immer wieder von den Personen auf der Bühne zwinkernd an den Zuschauer“ wendet?! Das Buch ist voll von solchen dankenswerten Formulierungen. (Nestroy liebte die Welt des Theaters ... „und nahm sie wichtig, aber nicht zu ernst“); und wenn wir Mautner in die Karl-Kraus-Nachfolge einreihen, wird er das als Kompliment ansehen.

Sein Ansatz ist: jenseits von Form und Qualität die „Familienähnlichkeit“ der Nestroy-Komödien aufzuspüren und damit dem Wesen Nestroys auf den Grund zu kommen, vor allem durch Analyse der Nestroy-Sprache. Mautner isoliert die Vielzahl der Sprachebenen, diagnostiziert die Elemente der Parodie, Ironie, Satire und das ihnen zugrundeliegende Weltbild.

All das ist nicht nur Ergebnis heller Freude, sondern auch Frucht profunder Zusammenschau, weiser Einsicht und inspirierter Analyse.

Man ist zu prophezeien versucht, daß „der Mautner“ durch seinen ersten großen Hauptteil „Das Werk“ zum Klassiker für alle künftige Nestroy-Erkenntnis werden wird.

Dem analytischen Querschnitt folgt als zweiter Hauptteil ein chronologischer Längsschnitt, der Stück für Stück die Stücke betrachtet, wertet, entwicklungsmäßig ortet, rühmt oder kritisiert, in Zusammenhänge stellt — anregend, informativ, als Nachschlagebehelf unschätzbar.

Es fällt auf, daß die Gewichte dieses Abschnitts nicht gleichmäßig verteilt sind und daß Mautners Sympathie ihre eigenen Wege geht. Er sagt, scheint mir, zum Beispiel zuwenig über „Zu ebener Erde und erster Stock“ und den „Zerrissenen“, er vernachlässigt auch die Funktion der Duette, Quodlibets, Chöre in Nestroys Dramaturgie. Aber er ist auch hier, und das ist eine seiner zahlreichen schätzenswerten Qualitäten, weit über das Germanistisch-Literaturwissenschaftliche hinaus, auf das Theater hin, vom Theater her orientiert. Wie immer er Nestroy anschaut, sieht er ihn nicht schwarz auf weiß, sondern in drei Dimensionen, nicht als Text, sondern als Theatervorgang. Und was das bedeutet, wird man erst ganz würdigen, wenn man sich vergegenwärtigt, daß Mautner 1938 (also vor der Erfindung der Theaterwissenschaft) den Kontakt mit dem lebendigen europäischen Theater verlieren mußte und auf ein imaginäres wienerisches Traumtheater in Pennsylvania verwiesen war.

Dementsprechend gilt der dritte Hauptabschnitt „Die Wirkung“ nicht der Aufführungs- und Bearbeitungspraxis der letzten Jahrzehnte; er registriert die zunehmende Nestroy-Dichte auf unseren Bühnen, stellt aber vor allem sehr einleuchtend und dankenswert Zusammenhänge her, zieht Linien von Nestroy zu Wedekind, Sternheim, Brecht, Hor-väth, Dürrenmatt, Ionesco, Handke, Bauer und Qualtingers „Herrn Karl“. („Sprache liegt bei ihm dauernd im Hinterhalt, bricht auf ja und nein in das Territorium der fiktiven Komödie, des Fiktiven überhaupt, und beleuchtet es auf die erschreckendste und belustigendste Weise.“)

Den Anhang bilden ein Verzeichnis der Quellen und Vorbilder Nestroys, ein guter Bildteil, eine gute Zeittafel, ein Schriftenverzeichnis und ein leider recht mangelhaftes Register.

Es ist unumgänglich, daß man sich künftighin für Johann Nestroy interessieren und mit Johann Nestroy beschäftigen wird; zu diesem Behuf ist hinfort die Beschäftigung mit Franz H. Mautner unumgänglich.

NESTROY. Von Franz H. Mautner. Lothar-Stiehm-Verlag, Heidelberg. 424 Seiten, 36 Abbildungen auf Tafeln und 5 Faksimiles. S 585.—.

Er war einer der großartigsten Flunkerer, die Österreich-Ungarn je hervorgebracht hat. Als es Österreich-Ungarn nicht mehr gab, erfand er für seinen und seiner Leser Pri-< vatjgebrauch sofort ein neues, das man dann jenseits der einstigen

schwarz-gelb-rot-weiß-grünen Grenzpfähle für das echte hielt. (Dort glaubt man ja heute noch allen Ernstes, er habe wirklich Roda-Roda geheißen.) Um solches zu erreichen, mußte man nur ein wenig übertreiben ... so einfach war das.

Nein, es war gar nicht einfach. Um ein neues Österreich-Ungarn, um den k. u. k. Kosmos des Roda-Roda zu erschaffen, bedurfte es etlicher einzigartiger Fähigkeiten. Der Fähigkeit etwa, zahllose Einzelbeobachtungen zu einer abgerundeten Anekdote zu verdichten; der Fähigkeit, Pointen zu setzen, und zwar ihrer mehrere gleich in einem einzigen Satz; der Fähigkeit, deutschsprachi-

ge Leser durch eine ebenso raffinierte wie konsequente Falsch-Schreibung ungarischer und kroatischer Wörter zu zwingen, von den phonetischen Greueln abzulassen, deren sie sich ansonsten bei der Wiedergabe südöstlicher Sprachen schuldig zu machen pflegen. Der Fähigkeit auch, ein Monokel so einzuklemmen, daß es, auch wenn das Publikum wieherte, nie herunterfiel, und der Fähigkeit, das Geschriebene in jenem hinreißenden k. u. k. Offiziersdeutsch vorzulesen, das, Gott sei's geklagt, ausgestorben ist und an dessen Stelle nach dem Zweiten Weltkrieg jenes falsch übersetzte Amerikanisch ohne Konjunktiv und Zeitenfolge getreten ist, das für Telexnachrichten gerade noch ausreicht, dessen Kargheit sich aber jeder der von Roda-Roda erfundenen Zigeuner, Trödeljuden und Puszta-hirten bis in die Seele hinein geschämt hätte. Sie alle nämlich waren, wie ihr Erfinder, des Spiels mit Worten mächtig, des Aufschneidens, des Flunkerns, des Pointensetzens.1

Dieses Pointensetzens, Flunkerns und Aufschneidens wegen glaubten seinerzeit einige überlebende k. u. k. Offiziere, Roda-Roda wolle sie und das unersetzliche Reich, das sie verteidigt hatten, verhöhnen. In literarischen Dingen unbewandert, begriffen sie nicht, daß er hinter vorgehaltener ironischer Maske ein hohes Lied ihrer Menschlichkeit sang, einer Menschlichkeit, die ganz Europa, ja allen zivilisierten Völkern hätte zum Vorbild dienen sollen, wäre die Welt nicht zum andernmal untergegangen.

Es ist fast gleichgültig, welches von Roda-Rodas Büchern man zur Hand nimmt. Eines davon hat jetzt, dankenswerterweise, der Zsolnay-Verlag neu herausgebracht. Es heißt: „Die Streiche des Junkers Marius.“

DIE STREICHE DES JUNKERS MARIUS. Roman von Roda-Roda. Paul-Zsolnay-V'erlag, Wien-Hamburg, 1975. 260 Seiten. Leinen,

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