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Wie krähwinklig war Nestroys Wien?

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Sein Leben lang hatte Johann Nestroy jedes Stück der Zensur vorlegen, stets an die Zensur denken müssen - nun gab es seit dem 14. März keine Zensur mehr und er konnte sagen, was er wollte. Zwei neue Stücke wurden in den zensurfreien Monaten des Revolutionsjahres 1848 uraufgeführt: „Die Anverwandten” und „Freiheit in Krähwinkel”. Das erste entstand vor dem Verschwinden der Zensur und fiel durch.

„Freiheit in Krähwinkel” hingegen wurde unter dem Eindruck der Revolution geschrieben und bis zur Sommerpause täglich gespielt. Nestroy selbst gab den Feuergeist Ultra. Daß er sodann im August und September mit der „Freiheit” in Graz, Budapest, Brünn, Prag, Leipzig, Hamburg und Linz gastieren konnte, beweist, daß er den Nerv der Zeit getroffen hatte. Dabei ist „Freiheit in Krähwinkel” alles andere als ein unkritisches Bevolu-tionsstück. Man kann fast sagen, daß Nestroy mit Zensur revolutionärer gewesen war als ohne Zensur.

Plötzlich war das Publikum der Zensor. So sehr ihm „Freiheit in Krähwinkel” gefiel - die Warnung vor dem Eingreifen der Bussen taugte ihm ganz und gar nicht, weshalb die Szene auch alsbald gestrichen wurde.

In Scharen waren die Wiener einst Ferdinand Raimund davon- und Johann Nestroy zugelaufen. Daß Raimund out war, hatte damit zu tun, daß Nestroy der Stimmung in den Vorstädten perfekt Ausdruck gab. Raimund ist der Dichter einer Zeit, in der die Wiener noch einmal Hoffnung schöpfen dürfen, bevor ihnen der Druck von oben und die ökonomische Krise das Leben vergällen. In Raimunds Welt sorgen die himmlischen Mächte für Gerechtigkeit und im Geisterkönig erkennt man den grantigen, aber gutmütigen Monarchen.

In Nestroys Welt wird keinem geholfen, der sich nicht selber hilft, und wenn, dann heißt die höhere Macht Zufall. Nestroys Welt ist die Welt der Glücksritter und aufsässigen Domestiken. Räumt man den Kitsch ab, mit dem er entschärft wird, lassen seine Stücke einen eiskalten Blick auf das Wien seiner Zeit erkennen.

Im Vormärz standen der von der Zensur bevormundete Stückeschreiber und sein Vorstadtpublikum auf einer Seite. 1848 wurde erkennbar, daß die Kleinbürger mit den Armen und Studenten keineswegs an einem Strang zogen. Herausgeber John B.P. McKenzie arbeitet dies im Band 26/1 der historisch-kritischen Ausgabe recht genau heraus. Auch, daß die Wiener Nestroys Warnung vor dem Scheitern der Revolution nicht gou-tierten. Die Streichungen nach der Premiere, die Reaktionen auf Kritik, etwa an der Uberlänge des zweiten Aktes, sind genau dokumentiert.

Auch die oft erörterte Frage, wie weit Wien mit Krähwinkel gleichzusetzen sei, was zweifellos nur eingeschränkt möglich ist und schon zu manchen Mißverständnissen geführt hat, wird neuerlich und mit plausiblen Ergebnissen untersucht.

Untersucht wird auch das Problem der von Nestroy ausgeschiedenen Textstellen, wo „die Unterschlagung von Staatsgeldern durch Metternich” angedeutet wird und die „dem Publikum 1848 sicher gefallen” hätten. Wohl möglich, daß sie tatsächlich erst nach der Niederwerfung der Revolution im November 1848 Nestroys Selbstzensur zum Opfer fielen.

Dabei bleibt freilich - aber die Nestroy-Debatte muß ja weitergehen -ein weites Feld offen. Etwa für die Frage: Sollte Nestroy, als er 1848 den Wienern einen Spiegel vorhielt, in dem sie ihre Inkonsequenz und Halbherzigkeit erkennen sollten, wirklich ganz und gar nicht daran gedacht haben, welche Folgen nach dem - offensichtlich für ihn klar vorhersehbaren -Scheitern der Revolution der eine oder andere Satz, die eine oder andere Szene für ihn persönlich haben konnte? Der Mann, der sich, als er Theaterdirektor wurde, sofort eine Villa in der kaiserlichen Sommerfrische Rad Ischl zulegte, sah, bei aller revolutionären Gesinnung, 1848 wohl keinen Grund, irgendwelche Brücken hinter sich zu verbrennen.

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