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Gibt es eine deutsche Nation?

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Dr. Emench Francis, Hochschulprofessor in München, zeitweilig auch Gastprofessor in Innsbruck und vor allem lange Zeit hindurch als Wissenschaftler in Amerika tätig gewesen, gehört zu den heute führenden Repräsentanten der Volkstheorie und Volkswissenschaft

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Dr. Emench Francis, Hochschulprofessor in München, zeitweilig auch Gastprofessor in Innsbruck und vor allem lange Zeit hindurch als Wissenschaftler in Amerika tätig gewesen, gehört zu den heute führenden Repräsentanten der Volkstheorie und Volkswissenschaft

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Was Francis besonders auszeichnet,“ ist seine Hinwendung zur Grundlagenforschung. Als Soziologe geht er naturgemäß von soziologischen Untersuchungsmethoden aus, doch ist das Werk auch für den Juristen (heute also den Staats- und Völkerrechtler) von großer Wichtigr keit, denn man kann „Volk“ nicht als Rechtsbegrift behandeln, ohne zuerst soziologische Abgrenzungen gefunden zu haben („soziologisch“ ist dabei weit zu spannen, also auch im Sinne der wieder zu Ehren kommenden Volkswissenschaft, Volkspsychologie, aber auch der Bevölkerungswissenschaft und der jungen Politologie). Francis versucht eine Begriffsanalyse von „Volk“ an Hand von zwei Bedeutungsreihen (Vi und Va) zu geben, wobei die Reihe Vi vulgus pieps und auch populus (peuple) zur Grundlage hat, also gewissermaßen volkhaft indifferente Schichten im Sinne von Unterschichten, während die Reihe V Volk im eigentlichen, nämlich ethnischen Sinne erfaßt, wobei auch ein Symbolcharakter nicht fehlt (Israeliten und Moabiter, Hellenen und Perser, Italer und Etrusker, Goten und Hunnen, Franzosen und Deutsche usw.). Naturgemäß stößt er in dieser Reihe Vs auch auf den schillernden Begriff „Nation“. Ganz richtig (Saite 75) erkennt er, daß der Nationsbegriff eine politische Färbung hat und wandelt ihn dann in einer eigenen, vom Volk verschiedenen Bedeutungsreihe Ni zur Staatsnation ab — die es historisch gesehen noch gar nicht lange gibt, was vor Francis schon Guido Zer-natto in seinem wichtigen Fragment über die Geschichte der Nation postum bei Stiasny in Graz und auch Karl Renner in seinem wichtigen postumen Buch über die Nation als Mythos und Wirklichkeit (mit leider einigen Verformungen in den Herausgeberanmerkungen von Jacques Hannak, Europa-Verlag) überzeugend darstellten. Francis formuliert aber auch eine Reihe Ns, in welcher er die Nation mit Ethnos in Beziehung zu setzen sucht (wobei er auf die Wichtigkeit sprachlicher Kriterien für ethnische Zugehörigkeit hinweist, ohne sie zu überwerten). Mit dieser Reihe tritt er eine Fortsetzung dessen an, was die ältere mitteleuropäische nationalitätenrechtliche Lehre (etwa Seipel, Renner, Bauer, W. Steinacker) herausgearbeitet hat und was heute noch als — angebliche — Lehre Ernest Renans mit ihrem plebiscite de tous le jours hin und wieder vertreten wird. Man wird dem gegenüber allerdings nicht übersehen können, daß Renans Lehre heute, besonders in Franco-Canada, als vielfach fehl interpretiert herausgearbeitet wird, und daß der Nationsbegriff eines Seipel, Bauer, Renner, Palacky, ja sogar Deak ebenfalls nur als historisches Phänomen gesehen werden kann. Es sei nicht übersehen, daß ethnisch-sprachliche Gemeinschaften mit nationalstaatlichen Tendenzen auch heute noch da und dort lebenskräftig sind (besonders in den romanischen Staaten), die Entwicklung ist im allgemeinen aber darüber hinweggeschritten, so daß Nation immer mehr bejahte staatliche politische Gemeinschaft wird und sich daher von der ethnischen Gemeinschaft des Volkes löst. Die Präambel und Artikel 116 des Bonner Grundgesetzes zeigen dies sehr deutlich: es gibt keine deutsche Nation im „klassischen“ Sinne mehr.

Francis' Gedanken sind oft frappierend, sie zeigen da und dort ein allzuweites Eingehen auf amerikanische melting-pot-Gedanken, sie sind aber vielfach überzeugend und das Buch ist von überragender Bedeutung.

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