Groß, größer, Kopfweh

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Die großen Pharmakonzerne orientieren sich bei der Arzneimittelforschung oft nur mehr "am Markt". Was sich nicht rechnet, wird erst gar nicht produziert.

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Die großen Pharmakonzerne orientieren sich bei der Arzneimittelforschung oft nur mehr "am Markt". Was sich nicht rechnet, wird erst gar nicht produziert.

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Banken, Luftfahrt, Telekommunikation, Fernseh- und Filmbranche, Versicherungen, Chemie- und Ölkonzerne - eine Welle von Fusionen läßt immer mehr und immer größere Giganten entstehen. Es wird gekauft und verkauft, jongliert, spekuliert, zerschlagen und fusioniert. Zeitungsberichten zufolge wurden allein im Vorjahr weltweit 26.000 Zusammenschlüsse und Übernahmen gezählt. Die Motive hinter der massiven Bündelung von Macht und Geld sind immer die gleichen: Der Kampf um Marktanteile im weit offenen Weltmarkt.

Naturgemäß schaffen Verschmelzungen nicht nur Vorteile, sondern auch Probleme wie schwerfällige und komplizierte Entscheidungs- und Verwaltungsstrukturen.

Aber nicht nur das kann zum Stolperstein werden, wie das Beispiel Pharmaindustrie und Arzneimittelforschung zeigt: Seit Beginn der neunziger Jahre reißt auch hier die Fusionswelle nicht ab. Vor rund zweieinhalb Jahren verschmolzen etwa die Chemie- und Pharmakonzerne Sandoz und Ciba-Geigy zu Novartis. Zu Beginn dieses Jahres war von der größten Fusion in der Geschichte die Rede: die Pharmariesen Glaxo-Wellcome und SmithKline Beecham scheiterten allerdings an der Eitelkeit ihrer Manager. Man konnte sich nicht einigen, wer denn nun den Koloß eigentlich herumkommandieren darf ... Dieser Tage ließ erneut die Ankündigung einer Elefantenhochzeit aufhorchen. Die beiden Unternehmen Clariant und Ciba Spezialitätenchemie wollen zum größten Konzern ihrer Branche avancieren. Hinter der massiven Fusionitis steht meist die Aussicht auf geballte Finanzkraft für die teuer gewordene Forschung und Entwicklung, für Marketing und Vertrieb.

Die pharmazeutischen Unternehmen hatten in den letzten 100 Jahren eine Art Monopolstellung inne: die Suche nach neuen Arzneien war Sache ihrer Labors, dem Forschungsdrang der Wissenschaftler waren kaum Grenzen gesetzt. Das Ergebnis sind volle Arzneimittelschränke mit Tabletten, Pillen, Kapseln, Säften - ein medizinischer Segen, über dessen Herstellung man sich heute eigentlich kaum Gedanken macht. Ob das allerdings angesichts neuer Tendenzen in der pharmazeutischen Industrie auch so bleiben wird, ist fraglich.

Einer hat jedenfalls schon Alarm geschlagen: Professor Jürgen Drews, bis Ende 1997 in der Konzernleitung der globalen Forschung der Hoffmann-La Roche AG in Basel beschäftigt. Seine Kritik: Die Wissenschaft werde zu sehr den Belangen des Marktes untergeordnet. Aus Forschern mit einem breiten und sensiblen Verständnis für Arzneimittel und ihre Anwendung werden bloße Auftragsempfänger. "Die Forschungsorganisationen und -labors führen ihre Unternehmen nicht mehr, sie werden geführt", stellt Drews fest. Und diese Führer sind Juristen, Betriebswirte, Marketingstrategen - also häufig Menschen, die die Zukunft als lineare Extrapolation bisheriger Entwicklungen verstehen, aber keine großen Entdecker, Ideenspender und kreativen Köpfe mehr sind.

Der Erfolg in der Branche hängt aber nicht nur von Markt- und Finanzwissen ab, sagt Drews, sondern auch von der Fähigkeit, die Entwicklung der Medizin über Jahre hinaus weiterzudenken. Jenseits allen wirtschaftlichen Kalküls. So gesehen, sei die Pharmaindustrie dabei, "ihre Zukunft zu verspielen", stellt er in seinem Buch fest ("Die verspielte Zukunft. Wohin geht die Arzneimittelforschung?", Verlag Birkhäuser, 1998).

Drews macht klar, was es heißt, wenn die Pharmaindustrie bei der Auswahl ihrer Forschung nur mehr ökonomische Maßstäbe anlegt: Ein Medikament muß sich rechnen. Was sich nicht rechnet, wird erst gar nicht entwickelt. Letztlich entscheidet der erwartbare Gewinn. Potenz-, Schlankheits-, Anti-Fett-Pillen statt hochwirksame Substanzen gegen Aids oder Asthma?

Auch wenn Drews so ein Szenario in seinem Buch nicht zeichnet - ganz unrealistisch ist es nicht. Dem Aspirin, so meint er beispielsweise, wäre unter heutigen Bedingungen vielleicht ein anderes Schicksal beschieden worden.

Transparenz und Rechenschaftspflicht sind in Konzernetagen immer noch Fremdworte. Den neuen Kaisern in den großen Ledersesseln kommt es in der Regel noch absurd vor, Normal-Sterblichen über ihr Tun Auskunft zu erteilen. Doch auch sie müssen sich bereits verstärkt auf die Finger schauen lassen. Patienteninitiativen sind neue Phänomene und Ausdruck von Unzufriedenheit mit der Entwicklung. Alzheimer-Erkrankte und Brustkrebs-Patientinnen kämpfen in den USA bereits dafür, daß Medikamente rascher zugänglich gemacht werden. Die Aids-Kranken wiederum betrieben überhaupt aggressives Lobbying gegen die Pharmaindustrie. Man glaubte, es werde nicht genug getan in Sachen Forschung. Trotzdem bleibt der Wille gedämpft, Aids entschlossen zu bekämpfen. Das sei Ausdruck einer ungebrochenen Einstellung der Konzerne, sagt Drews, die größten Wert legen auf die freie Entscheidung, woran intensiv geforscht wird und woran nicht. Eine Entwicklung, die der Gesellschaft vielleicht allmählich Kopfweh bereiten sollte ...

Zum Überleben eines Unternehmens gehört auch das Gespür für gesellschaftliche Entwicklungen. Diese Eigenschaften sind in den leitenden Gremien der pharmazeutischen Firmen ebenfalls nicht immer in genügendem Ausmaß vorhanden, stellt Jürgen Drews fest. Die Zahl der erfolgreich operierenden Konzerne wird also weiter sinken. Denn Größe allein ist ganz offensichtlich noch kein Garant für den wirtschaftlichen Erfolg.

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