7112140-1996_01_22.jpg
Digital In Arbeit

Frau mit Zivilcourage

19451960198020002020

Am 14. Dezember 1995 wurde in Paris das Bosnien-Friedensabkommen feierlich unter7 zeichnet. Zur gleichen Zeit befand sich eine zierliche Frau anfang Sechzig auf dem Weg nach Kroatien, den Wagen vollbepackt mit Lebensmitteln, Kleidung... Die 94. Fahrt innerhalb von vier Jahren.

19451960198020002020

Am 14. Dezember 1995 wurde in Paris das Bosnien-Friedensabkommen feierlich unter7 zeichnet. Zur gleichen Zeit befand sich eine zierliche Frau anfang Sechzig auf dem Weg nach Kroatien, den Wagen vollbepackt mit Lebensmitteln, Kleidung... Die 94. Fahrt innerhalb von vier Jahren.

Werbung
Werbung
Werbung

Begonnen hatte alles im November 1991. Annemarie Kury, 1932 im Böhmerwald geboren, hat als Sudentendeutsche Verfolgung und Hunger am eigenen Leib erfahren. Doch ihr wurde Hilfe zuteil und daraus wuchs die Überzeugung: auch „Feinde" haben ein Herz.

Als Annemarie Kury unter dem Eindruck der Berichte über die Kämpfe in Kroatien mit Jelena Braj-sa, der Leiterin der Caritas von Kroatien, die sie von früher her kannte, telefonierte, blieb ihr nur der dreifache Hilferuf im Ohr: „Wir brauchen Essen, Essen, Essen!"

„Ich habe meine alte Krankenschwesterntracht angezogen, mein Auto mit Essen vollbepackt und bin losgefahren", erinnert sich Frau Kury an dieses erste Mal. Ausgestattet mit selbstverfertigten, dreisprachigen Empfehlungsschreiben gelang es ihr, bis zur Caritas in Zagreb durchzukommen. Dort verteilte sie zusammen mit der Caritasleiterin die Lebensmittel und fuhr, zutiefst erschüttert von der Not, aber auch der Dankbarkeit der Beschenkten, am selben Tag wieder die 350 Kilometer zurück nach Wien. Ab nun fuhr sie wöchentlich nach Kroatien. Die Hilfsgüter verteilte sie meist direkt an die Bedürftigen in den Dörfern oder im Kriegsgebiet.

Dieses Ein-Frau-Hilfeunterneh-men blieb den Menschen in ihrer Umgebung nicht verborgen und sie begannen, die humanitären Aktivitäten mit Spenden zu unterstützen, die Frau Kury alle in einem „Kassabuch der Hilfe" erfaßte. Aber auch freiwillige Helfer stellten sich samt Fahrzeugen zur Verfügung. Die Fahrer, zwischen 19 und 74 Jahren, waren Gewerbetreibende, Studenten, Techniker, Angestellte, Arbeiter, Arzte, Diplomaten, Generaldirektoren und Pfarrer. So ging, und das ist auch heute noch so, kein gespendeter Schilling für Verwaltungs- oder Transportkosten auf.

Nach jeder Fahrt bekamen die Spender einen kurzen Rechenschaftsbericht. Am Anfang genügten zehn Kopien, heute sind es über 100, die meist auch nicht ausreichen, meint Annemarie Kury, die von dieser Welle der Hilfsbereitschaft am meisten überrascht war: „Es ist ein Wunder, daß es immer wieder weitergeht, sich immer wieder neue Quellen auftun."

Ihre Transporte hat Frau Kury mittlerweile auch auf Bosnien ausgedehnt. Dort sei mittlerweile die Not viel, viel größer, die Hilfe noch dringender, berichtet sie.

Während ihrer bislang letzten Fahrt nach Tuszla wurde gerade der Bosnien-Frieden verhandelt. Im Autoradio verfolgten Kury und ihre Fahrer die Berichte über die Friedensverhandlungen.

Aus dem letzten „Bechenschaftsbericht" stammt folgender, ganz persönlicher Eindruck:

„Dienstag, 21. November. Fünf Uhr früh startete ich meine 93. Fahrt. Zwei bosnische, mir lieb gewordene, erfahrene Fahrer lenkten den Acht-Tonnen-LKW, den mir der Bosnische Club in Österreich zur Verfügung gestellt hatte. Unsere Ladung bestand aus zwei Tonnen Mehl, zwei Tonnen Speiseöl, einer Tonne Zucker, einer Tonne Teigwaren, einer Tonne Waschpulver, 200 Kilogramm Kekse, 200 Kilogramm Honig, der Rest warme Kleidung, Schuhe und viele Extras, die besonders schwer waren.

Beim slowenischen Zoll mußte der LKW auf die Waage, und obwohl wir ausgestiegen waren, überschritten wir das Gewichtslimit. Nach einer Schrecksekunde bei mir - ein Lächeln. Wir wurden weitergewunken. Problemlos ging es durch Slowenien nach Kroatien. Weiter nach Zagreb - Karlovac, erstmals über Slunj - Knin - Sinj - Split. Auf der Fahrt hörten wir stündlich die Nachrichten von Radio Sarajevo um von den Friedenvertragsverhandlungen zu wissen.

Endlich war es soweit. Es war schon finster, eine einsame Gegend. Der Sprecher verkündete den Frieden samt den Friedensbedingungen. Die beiden Fahrer waren wie gelähmt und dann kam es: ,Mit dieser Unterschrift haben wir die Heimat verloren, jegliche Hoffnung ist weg.' Außer dem Motorengeräusch hörte ich nur mehr das ,Aufschnupfen' der beiden. Ich fand kein passendes Wort des Trostes und litt mit ihnen; vor 50 Jahren hatte ich meine Heimat in Böhmen verloren.

So fuhren wir lange wortlos unter den Sternenhimmel durch die eisige Nacht. Wenn ich den beiden doch irgendetwas Tröstliches sagen könnte! Plötzlich brechen Wut und Verzweiflung heraus. Es wird laut und allen, auch mir, ist ein bißchen leichter."

Annemarie Kury wird weitermachen. Sie ist überzeugt, daß die Menschen hier gerade jetzt Zuwendung auf vielerlei Art brauchen. Jetzt, wo die Spannung des Krieges, der Kampf ums Überleben nachläßt und für viele nun zur Gewißheit wird, die Heimat verloren zu haben.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung