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Tod im Kinderzimmer

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Das Drama des 19jährigen Au-pair-Mädchens Louise Woodward ist kein Einzelfall. Der „Tatort Kinderzimmer” beschäftigt seit Jahrhunderten die Justiz.

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Das Drama des 19jährigen Au-pair-Mädchens Louise Woodward ist kein Einzelfall. Der „Tatort Kinderzimmer” beschäftigt seit Jahrhunderten die Justiz.

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Vor der Katastrophe lebt das Ehepaar Eappen mit seinen zwei Kindern in einem feudalen Herrenhaus in Cambridge im US-Bundesstaat Massachusetts, wie eine amerikanische wohlhabende Mittelstandsfamilie eben lebt. Sohn Bren-dan ist drei Jahre alt, sein Bruder Matthew acht Monate. Der Vater ist ein erfolgreicher Anästhesist, die Mutter ebenfalls Ärztin. Um Beruf und Karriere nicht unterbrechen zu müssen, engagiert die Familie die 19jährige Louise Woodward aus dem kleinen englischen Städtchen Elton in der Grafschaft Cheshire für ein Jahr als Au-pair-Mädchen. Vermittelt wurde sie von der Agentur E. F. Au-pair, dem amerikanischen Zweig einer internationalen Education Foundation, die den Austausch von Au-pairs und Sprachschulen in den USA und Europa betreibt.

Gewaltiges Interesse

Das Drama, das über das Mädchen und die Familie hereinbrach und seither Millionen Menschen bewegt, begann Ende Jänner 1997. Louise Woodward war mit den Kindern allein zu Hause. Sie badete den kleinen Matthew Eappen, der länger als sonst geschlafen hatte, wickelte ihn auf Handtüchern im Badezimmer und legte ihn ins Bett. Das Baby weinte und war nicht zu beruhigen. Später stellte das Mädchen Atemschwierigkeiten fest und versuchte es mit Schütteln des Kleinen. Als es nicht mehr ein und aus wußte, verständigte es die Mutter und anschließend die Bettung - so die Angaben beim Polizeiverhör. Als Matthew am 4. Februar 1997 den Blutungen in der Gehirnschale erlag, befand sich Louise bereits in Untersuchungshaft.

Sieben Monate später wurde dem 19jährigen Mädchen vor einem Geschworenengericht der Prozeß gemacht. Die Staatsanwaltschaft klagte Louise Woodward an, den Tod durch zu heftiges Schütteln und Fallenlassen auf den Boden des Badezimmers absichtlich herbeigeführt zu haben. Der Verteidigung beigestellt wurde der landesbekannte Anwalt Barry Schecks. Die Organisation und einen Teil der Kosten der Verteidigung übernahm die Agentur E. F. Au-pair.

Die Verteidigung gab sich siegessicher, der vom O.-j.-Simpson-Prozeß bekannte Anwalt Barry Schecks glänzte mit überheblichem Auftreten und einer riskanten Strategie: Alles oder Nichts.

Bichter Hiller B. Zobel galt als erfahrener Mann am Ende seiner Laufbahn und damit von Karriere-überlegung*en unbeeinflußt.

Der Prozeß wurde zu einem internationalen Medienereignis. Ende Oktober lag das Urteil der Geschworenenjury vor: Lebenslänglich wegen Mordes. Die Strategie der Verteidigung hatte die Geschworenen, darunter neun Frauen, in ein Dilemma geführt, da sie nur auf „schuldig” wegen Mordes oder „unschuldig” plädieren konnten.

Nach den weltweiten Protesten hat jetzt Bichter Zobel das letzte Wort gesprochen und das Urteil korrigiert: Totschlag und nicht Mord, lautet sein Urteil. 279 Tage Haft für Louise Woodward, die sie bereits durch die Untersuchungshaft abgesessen hat. Das Mädchen sei verwirrt, unerfahren und frustiert gewesen, sagte der

Richter in der Urteilsbegründung.

Nicht nur in der Heimat des Au-pair-Mädchens hat der Fall Woodward tiefe Betroffenheit ausgelöst. Die Aufregungen und Emotionen haben die in den Staaten weit verbreitete Feindschaft gegen Mütter aus der Mittelschicht wieder geschürt, die beides, Familie und Karriere, wollen. Die Verantwortung und Haftung und das Auswahlverfahren der Agenturen wird massiv hinterfragt. Zeitungen und Talkshows überschlagen sich mit Berichten über Probleme und Nöte der jungen Mädchen im Umgang mit den oft verhaltensgestörten Kindern, die Sprachschwierigkeiten, über die völlig anderen Lebensformen der Gastfamilien, die Überforderung und oft auch Ausbeutung an konkreten Beispielen.

Parallelen zu einem einige Jahre zurückliegenden Fall sind auffällig.

1991 kam das drei Monate alte Kleinkind Kristie der Familie Bill und De-nise Fischer in einem kleinen Ort nahe New Yorks bei einem Hausbrand ums Leben. Auch damals war ein Au-pair-Mädchen, Olivia Riner aus Wettingen in der Schweiz, mit Kristie allein zu Hause. Die Schweizerin machte einen ähnlichen Eindruck auf Kristies Eltern: willfährig, gehorsam, zuverlässig, kinderliebend.

Auch ihr wurde der Prozeß gemacht, da dringende Verdachtsmomente vorlagen, das Mädchen habe das Feuer im Kinderzimmer gelegt. Auch damals übernahm die Agentur Organisation und Finanzierung der Verteidigung. Es zahlte sich aus: Olivia Riner wurde freigesprochen.

Der Prozeß löste dieselben Emotionen wie der Fall Louise Woodward sechs Jahre später aus. Die Anteilnahme in der Schweiz war so stark wie diesmal in England. Nach dem Freispruch kehrte Olivia Riner wie eine Heldin heim. Nach dem Prozeß blieben allerdings einige Fragen offen. Nachträgliche Recherchen und Erkenntnisse ließen die Schuldlosigkeit des Au-pair-Mädchens in einem anderen Licht erscheinen.

Jahre nach dem Fall Olivia Riner befaßte sich Joyce Eg-ginton in ihrem Buch „Es geschah im Kinderzimmer” (Heyne Verlag) eingehend mit diesem Fall. Sie verweist dabei auch auf historische Beispiele: Der Arzt und Philosoph Karl Jaspers zum Beispiel nutzte eine Sammlung alter Geschichten über Kindesmord durch Kindermädchen für seine Dissertation. Im 18. und 19. Jahrhundert kam es im deutschsprachigen Raum zu einer so großen Zahl von Kindesmorden, daß sich die damaligen Gerichte mit diesen Fällen intensiver als damals üblich beschäftigten. Sie beauftragten Gutachter mit der Beurteilung dieser Mörderinnen.

Jaspers bemerkte ein von Heimweh verursachtes krankhaftes Verhalten dieser Mädchen, die auf so schreckliche Lösungen ihrer Probleme verfielen. Obwohl sie voneinander keine Kenntnis hatten, ähnelten einander die Fälle erstaunlich. Das mörderische Heimweh, das Gefühl der Gefangenschaft, die Unmöglichkeit der vorzeitigen Rückkehr waren so gewaltig, daß sie mit dem Anzünden der Häuser, dem Mord, oder beidem, ihre Arbeit radikal und unwiederbringlich beendeten ...

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