Was zusammen war, wächst auseinander

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Salman Rushdies Roman über das verlorene Paradies, in dem Menschen und Religionen friedlich miteinander lebten.

Der alten Geschichte zufolge hätte es anders laufen müssen. In der alten Geschichte wurde Sita, die Reine, entführt, und Ram zog in den Krieg, um sie zurückzugewinnen. In der modernen Welt aber stand alles auf dem Kopf und wurde von innen nach außen gestülpt. Sita, vielmehr Boonyi in Sitas Rolle, hatte freiwillig beschlossen, mit ihrem amerikanischen Ravan durchzubrennen, um seine Geliebte zu werden und ihm ein Kind zu gebären; Ram aber - der muslimische Narr, Shalimar, diese Fehlbesetzung für Rams Part - zettelte keinen Krieg zu ihrer Rettung an. In der alten Geschichte wäre Ram lieber gestorben, als Sita aufzugeben. In der zeitgenössischen Saubermannversion der Erzählung hatte sich der Amerikaner jedoch von Sita abgewandt und seiner Königin erlaubt, die Tochter zu stehlen und Sita in Schande heimzuschicken."

Eine Liebestragödie bildet das Motiv für den Mord an Max Ophuls, dem ehemaligen Diplomaten und in Straßburg geborenen Juden. Ophuls wird in Kalifornien von seinem muslimischen Chauffeur quasi abgeschlachtet, weil er ihm vor Jahren Ehefrau Boonyi weggenommen hat. Das erfährt der Leser von Salman Rushdies neuestem Roman "Shalimar der Narr" nach hunderten Seiten und zahllosen Verästelungen in Zeiten und Räume.

Geglücktes Miteinander

Besondere Bedeutung erhält die Heimat Shalimars und Boonyis: Kaschmir, ein verlorenes Paradies, in dem das Miteinander von Religionen gelebt wird. Mit vielen Seitengeschichten, dem Blick für Kleines ebenso wie für Außergewöhnliches, was oft dasselbe ist, und Empathie erzählt Rushdie die Romeo-und-Julia-Geschichte der hinduistischen Boonyi und des muslimischen Shalimar, die anders ausgeht, als die jungen Liebenden fürchten, als ihre Liebe öffentlich wird: sie werden verheiratet. "Es gibt kein Hindu-Muslim-Problem. Zwei Kaschmiri - zwei Pachigami -, zwei Jugendliche wollen heiraten, das ist alles. Eine Liebesheirat ist für beide Familien akzeptabel, also wird es eine Hochzeit geben, bei der sowohl die hinduistischen wie die muslimischen Bräuche zu beachten sind."

Das Paar wird zum Sinnbild für das geglückte Miteinander, dabei hat Boonyi schon vor ihrer Hochzeit beschlossen, diesen Ort und diesen Mann zu verlassen. Das Unglück liegt als Vorahnung im Keim schon da und wartet nur auf die passende Gelegenheit.

Diese kommt in Gestalt des amerikanischen Botschafters. Max Ophuls hat nämlich nicht nur ein "lebhaftes Interesse an allen Aspekten der kaschmirischen Kultur", sondern auch an Boonyi Kaul Noman, der Tänzerin. Der Botschafter holt sie als Mätresse zu sich und schwängert sie. Sie wird immer fetter, ihre Schönheit ist bald dahin, während der als ehemaliger Resistancekämpfer verdiente Ophuls durch sein Verhalten Boonyi gegenüber zum klassischen westlichen Ausbeuter verkommt.

Denn Boonyi wird zurück ins Dorf geschickt, für dessen Bewohner sie gestorben ist und bleibt. Ihre Tochter Kashmira wird von der Frau des Botschafters aufgezogen, erlebt als India schließlich in Kalifornien den Mord an ihrem Vater mit und muss dem Mörder, dem ehemaligen Mann der Mutter, in die Augen sehen. Shalimar der Narr hat nämlich beschlossen sich zu rächen, ist darum Terrorist geworden und schließlich wie durch ein Wunder in Kalifornien gelandet, wo er dann sogar einen Job als Chauffeur von Max Ophuls, dem zu Ermordenden, erhält. Die Kurzzusammenfassung macht schon die Schwächen der Story deutlich.

Persönliche Rache

Eine simple Rachegeschichte also? Dass die Story, wenn man genauer hinsieht, seltsame Wendungen nimmt, bemerkt man nicht gleich, weil man sich durch soviel Unterholz arbeiten muss. Nicht alle Übergänge im Handlungsgerüst sind gleich schlüssig, manche Figuren bleiben trotz vieler Geschichten seltsam fremd ...

Rushdies Stil wechselt je nach Ort, wird immer wieder durchsetzt von jäh aufflammendem Sarkasmus und Ironie. Vom flott erzählten Kalifornien über das märchenhaft bis skurril anmutende Kaschmir bis zu historischen Begebenheiten während des Zweiten Weltkriegs in Frankreich reicht der Bogen des umfangreichen Romans. Ob alles so gewollt ist, wie es dann wirkt, sei dahingestellt. Es fällt jedenfalls auf, dass der Roman, der in Kalifornien beginnt, dort auch endet, wie Hollywood es nicht besser hätte inszenieren können. Shalimar entschwebt quasi dem Gefängnis und dringt in Kaschmiras Haus ein - das große Finale: der Rächer rückt dem Opfer gefährlich nahe. Solche Szenen hat man doch schon auf der Kinoleinwand gesehen. Ist diese Trivialität passiert? (Oder ist sie Absicht und soll den Wunsch der westlichen Welt nach filmreifen Lösungen und Konstellationen überdeutlich machen, die die Sicht auf die Welt vereinfachen helfen?)

Fakten und Fiktion

Beeindruckend aber sind Rushdies Beschreibungen von Kaschmir. Da wirken die historischpolitischen Fakten lebendiger in die Fiktion eingebettet als beim Versuch, den Zweiten Weltkrieg ins Romangeschehen einzubauen. Die immer wieder eingeflochtenen sarkastischen politischen Kommentare machen das humanitäre Interesse des Autors spürbar. So gelingt es der Leserin trotz aller Brüche, die Liebesgeschichte fasziniert als Symbol zu lesen für das Auseinanderbrechen dessen, was zusammengehört. Parallel zur Ehe zerschellt nämlich Kaschmir. Im Paradies tauchen die ersten Radikalisierer auf, das Land wird zerrissen. Die Episoden in Frankreich vor dem und im Zweiten Weltkrieg sollen die Parallelen in West und Ost darstellen. "Er war einen weiten Weg gekommen, vielleicht aber war es auch gar nicht so weit gewesen. Können zwei Orte verschiedener sein, fragte er sich, und können sich zwei Orte ähnlicher sein? Die menschliche Natur, die große Konstante, hatte gewiss trotz aller oberflächlichen Unterschiede Bestand."

Dieselben Töpfe und Witze

Wo Rushdie Kaschmir erzählt, konkret den Ort Pachigam, blüht der Roman auf. Skurril, liebevoll, mythenverwoben, märchenhaft nähert sich der Autor dem zerrissenen Grenzland. Pachigam ist ein gemischtes Dorf: Muslime leben Seite an Seite mit Pandit-Familien und eine Familie tanzender Juden wohnt auch hier, jedenfalls solange das Paradies besteht. "Wer sind heue Abend die Hindus? Wer die Muslime? Hier in Kaschmir werden unsere Geschichten frohgemut Seite an Seite in einer Doppelveranstaltung zur Aufführung gebracht, wir essen aus denselben Töpfen, wir lachen über dieselben Witze."

Ob es nun die Kochkünste sind, Metapher für das friedliche Zusammenleben der Religionen an einem Ort, wo mit Kochtöpfen der Krieg abgewehrt wird, oder die Beschreibung des terroristischen Befreiungskampfes und die ideologische Umerziehung der Kämpfer, hier scheint Rushdie in seinem Element, hier lebt das Buch, bekommt es Duft und Farbe.

Aber Kochtöpfe halten nicht gegen Waffen, die von außen kommen. Und so ist Pachigam bald nur mehr Erinnerung, wenn überhaupt. Bei aller Irritation, die der Roman für die Leserin bereithält: das Bild passt und der spürbare Pessimismus ist verständlich. Denn die Vorgänge in der Welt von gestern ebenso wie heute können einen schon zweifeln, verzweifeln lassen. Vielleicht war die friedliche Koexistenz eine Illusion, fragt sich Boonyis Vater. "Vielleicht waren Tyrannei, Zwangsbekehrungen, Tempelzerstörung, Bilderstürmerei, Verfolgung und Genozid die Norm." Eine Frage, die sich wohl auch mancher Leser stellt, und die täglichen Nachrichten aus aller Welt geben diesem Zweifel Nahrung.

"Einst war die Liebe von Boonyi und Shalimar dem Narren von ganz Pachigam - zu Recht - verteidigt worden als ein Triumph des Menschlichen über das Unmenschliche, doch das schreckliche Ende dieser Liebe weckte in Pyarelal zum ersten Mal in seinem Leben Zweifel an seiner Überzeugung, dass Menschen im Grunde gut waren, dass ihr ideales Ich sich offenbarte, für alle sichtbar im Lichte erstrahlte, wenn man ihnen nur half, die Unvollkommenheiten abzustreifen. Er hegte sogar Bedenken gegen die im Kaschmiriyat verkörperten Prinzipien der Einheit aller Volksgruppen und begann sich zu fragen, ob das Prinzip Zwietracht nicht mächtiger sei als jenes der Harmonie."

Shalimar der Narr

Roman von Salman Rushdie

Aus d. Engl. v. Bernhard Robben

Verlag Rowohlt, Reinbek 2006

541 Seiten, geb., e 23,60

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