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Verfälschte Geschichte
Die „Österreichische Geschichte 1890-1990” des Salzburger Historikers Ernst Hanisch wird gewiß zahlreiche fachkundige ausführliche Besprechungen erhalten, denen ich als nichtprofessoraler Zeitbetrachter keineswegs vorzugreifen die Absicht habe. Bloß als interessierter Leser und Angehöriger einer Generation, die in ihrer Jugend den Krieg und die Nachkriegszeit in Österreich zu erleben hatte, möchte ich eine Beobachtung mitteilen, die für einen ganz erstaunlichen Aspekt des Verfassers kennzeichnend ist:
Auf Seite 422 wird eine Tabelle über die „Einstellung der Österreicher zum Kommunismus und zum Nationalsozialismus 1948” zitiert, in der unfaßbare Ergebnisse aufscheinen, nämlich: 35,6 Prozent der Wiener hatten eine Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus, in der die „positiven Aspekte überwogen”, während dies beim Kommunismus nur bei 6,1 Prozent der Fall war. Nun ist für einen Zeitgenossen dieser Nachkriegsjahre ein solches Umfra-geergebhis von haarsträubender Widersprüchlichkeit zur damaligen Stimmung, die ich in verschiedensten sozialen Lagern ziemlich gut kannte. Ich ging also der Herkunft dieser provokanten Statistik nach, die bei Hanisch korrekt angegeben steht: „Quelle:,Verdrängte Schuld, verdrängte Sühne. Entnazifizierung in Österreich 1945-1955. hg. Sebastian Meissl u. a. Wien 1986'.” Dort findet man diese Tabelle in einem Aufsatz von Oliver Rath-kolb, der verschiedene Umfragen der amerikanischen Resat-zungsmacht nach dem Krieg analysiert. Allerdings vermerkt Rathkolb auch Folgendes: „Um Mißverständnisse auszuschließen, soll die Frage zitiert werden: Wenn Sie nur zwischen Kommunismus und Nationalsozialismus entscheiden müßten, was würden Sie wählen?” Gewiß eine haarsträubend dumme und tendenziöse Frage, aber immerhin läßt sie die beabsichtigte Manipulation erkennen.
Diese sehr wichtige Rathkolbsche Fußnote ist jedoch in Ha-nischs anspruchsvollem Werk schlicht weggelassen. Übrig blieb eine absolut unerklärliche damalige Sympathieerklärung für den Nationalsozialismus, der doch gerade Abermillionen von Menschen, darunter Söhne, Väter, Mütter, Ehegatten, Freunde in den Tod getrieben und viele gerade noch Zurückgekehrte Arme, Beine, das Augenlicht, die Gesundheit gekostet hatte. Auch stehen bei Rathkolb vorher andere, besser differenzierte Feststellungen.
Die bewußte oder auch unbewußte Tendenz von Fehlinformationen, die durch Weglassung eine falsche Meinung beim unerfahrenen Leser hervorrufen, öffnet den Blick in eine Geschichtsdarstellung, die an der Realität an bestimmten Punkten total vorbeigeht. Ernst Hanisch ist Jahrgang 1940 und war 1948 acht Jahre alt. Welchen Manipulationen werden Intellektuelle dieser Generation noch hineinfallen, wenn sie selbst bewußt oder unbewußt in einem solchen Testpunkt eine derart simplifizierende, tendenziöse und einfach falsche Darstellung lancieren? Welch eine Wissenschaft steht uns bevor?
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