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Die Flucht in die Idylle

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Carl Spitzweg, dieser aus München stammende Meister der Beobachtung kleinbürgerlicher Freuden und Nöte, aber somit auch aller menschlichen Hoffnung, Sehnsucht und Furcht, starb vor 100 Jahren, am 23. September des Jahres 1885.

Zu leicht tut man ihn, der alle altjüngferlichen Kalender- und

Postkartensammlungen mit seinen Abbildungen eroberte, mit dem Klischee des Idyllen-Malers ab. Die Sujets seiner Darstellungen lassen sich als Wunschbilder einer in sich heilen Seele sehen, in einer schwierigen Epoche voll sozialer Unruhen, wie dies die Zeit rund um das Revolutionsjahr 1848 war. Nach dem Aufstand der Weber in Schlesien 1844, war es 1848 in Deutschland und Österreich zur März-Revolution mit dem Ziel einer demokratischen Verfassung gekommen, eine Oktoberrevolution in Österreich, ungarische und tschechische Erhebungen gegen die Habsburger folgten. Eine Revolution in Paris und das „Kommunistische Manifest“ von Marx und Engels bereiteten den Boden.

Diese aufregenden historischen Ereignisse fielen in Carl Spitzwegs bedeutende Schaffensfrühzeit - und nichts von all diesen Schrecknissen ist in entsprechenden Motiven oder formalen Erregtheiten anzumerken. In Bayern wurde König Maximilian II. Joseph 1864 von Ludwig II. abgelöst. Seine Regierung und Kunstliebe trugen alle Merkmale der Spätzeitlichkeit.

In diesem Ambiente lebte und arbeitete Spitzweg, ohne jemals Hofkünstler gewesen zu sein. Es war die Paarung von kritischer Sicht und bewußter Abkehr vom soldatischen Leben und seinen Greueln, die ihn den Vorposten beim Stricken, Schlafen oder Gähnen malen ließen. Wenn der Betrachter die Karikatur des Soldaten als liebliche Idylle auslegt, mag dies an ihm selbst liegen. Zugegebenermaßen erreichte Spitzweg jedenfalls nie die Schärfe eines Daumier, strebte sie wohl auch nicht an.

Carl Spitzweg wurde in den Wirren der napoleonischen Kriege am 5. Februar 1808 in München geboren. Gemeinsam mit seinem Bruder unternahm er ausgedehnte Ausflüge in die herrliche, damals noch weitgehend unberührte, zum Teil recht dramatisch angelegte Umgebung Münchens. Man botanisierte, legte Herbarien und Zeichenhefte an. Dem Wunsch des Vaters gehorchend wurde Carl Spitzweg Apotheker. In diesem Beruf hatte er, der selbst kränkelte, viel mit Kranken und auch nur eingebildeten Kranken zu tun. Diese seltsame Spezies des Hypochonders sollte in seinem ganzen Malerleben eine bedeutende Rolle spielen. 1835 wandte sich Spitzweg ausschließlich dem Malen der Natur zu und stand damit von Anbeginn an im Gegensatz zur Lehre der Münchner Akademie, die im strengen Klassizismus erstarrt war.

In jener Zeit, als man noch die künstlerischen Ausdrucksformen eines Volkes nur in eben seinem Lande kennenlernen konnte, als es durch Tourismus und Massenmedien noch keine „Einheits-Unkultur“ gab, bereiste Spitzweg mehrmals Italien, wobei ihn Venedig besonders faszinierte, doch war er auch von Paris und London, von Prag und Wien nachhaltig beeindruckt.

Bilder wie „Der arme Poet“ (1839), „Der Sonntagsspaziergang“ (1841, im Salzburger Museum Carolino Augusteum), „Der Kaktusliebhaber“ (um 1845), „Der Bücherwurm“ (um 1850), „Das Ständchen“ (um 1854), „Der Briefbote im Rosenthal“ (um

1858), „Institutsspaziergang“ (um 1860), „Der abgefangene Liebesbrief“ und „Der ewige Hochzeiter“ (aus derselben Zeit) und „Kunst und Wissenschaft“ (um 1880) zählen zu seinen bekanntesten und beliebtesten Gemälden, die Bilder „In der Synagoge“ (1855-60), „Der Alchimist“ und „Das Flötenkonzert“ (beide um 1860) zu seinen bedeutendsten und fortschrittlichsten, fn der Wiedergabe von Hell und Dunkel und in der freien, aufgelockerten frühimpressionistischen Pinselstruktur gibt er sich als einer der Modernsten seiner Zeit zu erkennen.

Uber sein formales Können hinaus aber versteht es Carl Spitzweg bis heute, in uns die Sehnsucht nach der warmherzigen Geborgenheit und inneren Harmonie seiner Bilderwelt zu wecken.

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