Judentum: Witz und Wahrheit

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Durch die pandemiebedingte Schließung der meisten Gotteshäuser gibt es einen großen Hunger, wieder in eine Synagoge zu gehen. Trotzdem würden viele Mitglieder einer Synagoge kaum einen Fuß in die jeweils andere Synagoge setzen.

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Durch die pandemiebedingte Schließung der meisten Gotteshäuser gibt es einen großen Hunger, wieder in eine Synagoge zu gehen. Trotzdem würden viele Mitglieder einer Synagoge kaum einen Fuß in die jeweils andere Synagoge setzen.

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Witz und Wahrheit sind Geschwister. Ein alter Witz berichtet von einem Juden, der von einer einsamen Insel gerettet wird. Die Retterinnen fragen ihn erstaunt, warum er allein auf der Insel zwei Synagogen gebaut habe? „Eine, in die ich gehe, und eine, in die ich nie einen Fuß setzen würde“, antwortet er. – So harsche Gefühle hegen nicht viele Jüdinnen für eine Gemeinde, die nicht die ihre ist. Doch in Amerika ist auch die Religion ein Markt.

Wo man frei entscheiden kann, wem man die Mitgliedsgebühr zahlt, welcher Strömung man sich anschließt und wo man sich am wohlsten fühlt, regieren Angebot und Nachfrage. In meinem Viertel in Philadelphia ist dies gut erkennbar. Trete ich aus dem Haus, blicke ich auf die Synagoge „Bnai Avraham“ (Söhne Abrahams) der umstrittenen Bewegung „Chabad“. Sie vertritt eine messianisch-missionarische Orthodoxie und fischt vom rechten Rand aus Anhängerinnen.

Gehe ich hundert Meter nach Osten, bewege ich mich im innerjüdischen Spektrum in Richtung Mitte. Die Gemeinde „Kesher Israel“ (Verbindung des Volkes Israel) gehört zu einer zentristischen Strömung, die dem traditionellen Religionsgesetz verpflichtet ist, aber Frauen als Rabbinerinnen ordiniert. Dreihundert Meter nördlich liegt die „Society Hill“- Synagoge: etwas egalitär-progressiver als „Kesher Israel“. Weiter nördlich geht es zur Gemeinde „Rodeph Shalom“ (Friedenssucher), die zum Reformjudentum gehört, das sich als Widerpart zur Orthodoxie versteht.

Durch die pandemiebedingte Schließung der meisten Gotteshäuser gibt es einen großen Hunger, wieder in eine Synagoge zu gehen. Trotzdem würden viele Mitglieder der beiden Gemeinden, an denen mein Stadtspaziergang begann und endete, kaum einen Fuß in die jeweils andere Synagoge setzen. So hat der alte Witz in der Realität einen bitteren Beigeschmack.

Der Autor forscht zu Jewish Studies an der University of Pennsylvania, Philadelphia.

HINWEIS: Die FURCHE-Ausgabe, in der dieser Beitrag erschienen ist, war dem Thema „Frau sein“ gewidmet. Als Einladung zum Perspektivenwechsel wurde bei im Text erwähnten Personengruppen grundsätzlich die weibliche Form verwendet.

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