Roman-Dickicht

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Wally Lamb unterwirft seine Leser einer harten Geduldprobe.

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Wally Lamb unterwirft seine Leser einer harten Geduldprobe.

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Ein 900-Seiten-Roman ist eine weite Lesereise. Über Wally Lambs Riesenwerk "Früh am Morgen ..." fürchtet man anfangs, in eine jener Endlosgeschichten geraten zu sein, die Weltreisen versprechen, doch nur in kleinen Sprüngen durch Schrebergärten hopsen. Erst mit dem Mut zum Querlesen findet man Umrisse: Aufstieg und Fall eines in die USA eingewanderten Clans, beginnend bei der sizilianischen Sippe, in vier Generationen durch Katastrophen und Kinderlosigkeiten reduziert auf Zwillingsbrüder, endend mit einem adoptierten Mädchen 1998.

Mit dieser Routenskizze folgt man gelassener dem Sightseeing durch Hunderte von Spots: die Arbeits- und Vergnügungsplätze der lower middle class von Connecticut, Familienkrisen, Fernsehstumpfsinn, Drogen, Schwule, Schülersex, Schlafzimmer mit und ohne Spanner, Morde und Selbstmorde. Ein Gottloser fällt nach dem Fluch des Priesters prompt vom Dach. Aber auch durchgehende Stränge werden verfolgt: Kinder, die in extrem autoritären Welten aufwachsen, von dominanten Eheherren zerquetschte Mütter, einzelgängerische Frauen, die sozial verdorrt wie Mumien ins höchste Alter kommen. Als gegenläufiges Schicksal zum Immigranten-Clan erkennt man den Überlebenskampf einer Indianergruppe, die sich aus verstreuten Resten zäh aufrappelt. Hauptstrang wird die Zwillingsproblematik, wie da die beiden Brüder lebenslang in Haßliebe verbunden bleiben und dem "biochemischen Schlamassel" schließlich nur durch den Tod entkommen. Einer der Zwillinge führt als Ich-Erzähler durch die ganze Reise, nicht unsympathisch, mit einer Dosis Woody-Allen-Neurose, halb Angsthase, halb Großmaul. Man kann ihm gut zuhören.

Der europäische Leser sucht Festland in diesem Archipel von Stories. Er findet es im abenteuerlich verlorenen und wiedergefundenen Tagebuch des sizilianischen Großvaters. Kompletter Stilwechsel: Nicht mehr die streckenweise gehetzte Action einer Muppet-Show oder quälende Therapiesitzungs-Protokolle, sondern dramatisch verknüpfte Miniaturen a la Boccaccio, mit schönem Prinzen, bösem Blick, Brautschau-Komik und echt tränenden Madonnenbildern. Ein kostbares antikes Stück mitten im Fastfood-Ambiente. Das ganze Buch zieht trotz seiner Längen und Breiten aus dieser Kerngeschichte seine Stärke, erst von da aus begreift man manches, etwa die amerikanische Prüderie, die ihre Wurzeln im kontinental Katholischen genauso hat wie im englisch Puritanischen. Der ehrliche Autor gibt als Vorlage dafür eine Meisternovelle von d'Annunzio an.

Man kann sich in diesem Weiten Land Vorzugsregionen wählen. Ich wähle mir eine moderne Märtyrergeschichte. Der eine Zwilling hört in der Hysterie vor der ,Operation Wüstensturm' biblische Stimmen, die ihn persönlich ansprechen: "Wenn dich deine rechte Hand zum Bösen verführt, dann hau sie ab und wirf sie weg!" Er haut sich öffentlich die Hand ab, als Blutzeugnis, um die Welt vor dem Armaggedon zu retten. Ein Jean d'Arc, nicht zum Krieg, sondern gegen ihn aufrufend, mitten im kriegsgeilen Amerika. Wie sie wird er von der Staatsmacht stummgestellt und unter allen demokratischen Kontrollen in die Psychiatrie gesperrt. Dort erfährt er die Schikanen und Skandale, die dem Ort eigen sind: Ohnmacht gegenüber anonymer Macht, Kollaboration der Gutmeinenden mit dem System, physische Vergewaltigung. Am Tag nach den Entlassung nimmt er sich das Leben, liefert dem Hand-Opfer das Körper-Opfer nach, nicht mehr spektakulär vor Publikum, sondern im Verborgenen, als habe er verstanden, daß Martyrium nicht Sache irdischer Inszenierung ist.

Wally Lamb lehrt ,creative writing' an der University of Connecticut. Der creative reader hierzulande hat Respekt vor dem Romankoloß, lieber aber hätte er eine Romanfolge, die ihm die Riesenreise entgegenkommend in Etappen teilt. Warum folgt der creative writer nicht auch darin den großen Meistern, Zola etwa?

Früh am Morgen beginnt die Nacht. Roman von Wally Lamb Übersetzung: H. Koop und F. Fritz.

List Verlag, München 1999, 893 Seiten, geb., öS 364.-/e 26,45

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