Auch Mütter sind nur Menschen

Werbung
Werbung
Werbung

" Mutter

Ich trage Dich wie eine Wunde auf meiner Stirn

Die sich nicht schließt

Sie schmerzt nicht immer

Und es fließt das Herz sich nicht draus tot

Nur manchmal, plötzlich

bin ich blind und spüre Blut im Munde “

Dieses Gedicht von Gottfried Benn lässt Julia Onken in der Todesanzeige ihrer Mutter abdrucken. Die alte Frau ist im Altersheim gestorben, nach einem langen Leben und einem schweren Schicksal. Zumindest der Tod kam sanft und freundlich vorbei.

Es war eine konfliktreiche Beziehung, die Mutter und Tochter verbunden hat. Der Pubertierenden geht ihre früher innig geliebte Gebärerin plötzlich auf die Nerven. In ihrem Tagebuch schreibt sie seitenlang "ich hasse sie, ich hasse sie, ich hasse sie…“, danach "es tut mir leid, es tut mir leid, es tut mir leid …“ - und schließlich, kaum sichtbar, "ich liebe sie.“ Als sie bemerkt, dass die Mutter das verschlossene Buch geöffnet und gelesen hat, keimt in ihr die pure Verachtung.

Als die Tochter schließlich selbst Mutter wird, verkompliziert sich die Sache noch. Diametrale Erziehungsstile stoßen aufeinander, und doch ist die mütterliche Hilfe unentbehrlich. Später pendeln die Gefühle der Tochter zwischen Zuneigung und Ablehnung, zwischen Sehnsucht, Scham und peinlicher Betroffenheit. Doch über allem liegt ein quälendes Schuldgefühl: Was immer sie tut, wie oft sie auch ihre Mutter besucht - es ist niemals genug.

Dankbarkeit als Sühne für Demütigung

Diesen chronischen Schuldgefühlen so vieler Töchter gehen freilich die oft demütigenden und beschämenden Lebenserfahrungen vieler Mütter voraus, weiß Julia Onken. Frei nach dem Motto: Was habe ich nicht alles erleiden und erdulden müssen! Worauf habe ich nicht - der Umstände oder der Kinder wegen - verzichten müssen! Da kann man schon ein bisschen Dankbarkeit erwarten! Sich diese Wechselwirkungen zu vergegenwärtigen und die Mutter - abseits ihrer familiären Rolle - als individuellen Menschen mit (oft unerfüllten) Wünschen und Sehnsüchten zu begreifen, dafür plädiert die Schweizer Psychotherapeutin und Autorin in ihrem neuen Buch "Rabentöchter. Warum ich meine Mutter trotzdem liebe“.

Anhand ihrer eigenen Mutter-Tochter-Beziehung, aber auch anhand jener von Teilnehmerinnen ihres "Frauenseminar Bodensee“, zeigt Julia Onken, wie wichtig dieser bewusste, nüchterne Blick auf das Leben der Mutter ist. "Wir entdecken die wahren Ursachen und Hintergründe, die aus unserer Mutter den Menschen geformt haben, der in der Mutterrolle problematische Verhaltensweisen zeigte oder gar scheiterte“, ist die Autorin überzeugt. "Ihre Biografie ist der Schlüssel, um sie verstehen zu können.“

Auch sie selbst hat sich dem Leben ihrer Mutter gestellt - und eine "Scham- und Schandebiografie“ entdeckt, wie sie für nicht wenige Frauen Anfang des 20. Jahrhunderts typisch war: in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, früh die eigene Mutter verloren, von der Stiefmutter verachtet, vom Erbe ausgeschlossen, von einem Vorgesetzten geschwängert und verlassen, in ein Heim für "gefallene Mädchen“ gesteckt, einen alten Witwer geheiratet und von den Stieftöchtern abgelehnt. "Manchmal hatte ich den Eindruck, dass sie sich gar schämte, überhaupt auf der Welt zu sein“, schreibt Onken. Sie begann, ihre Mutter besser zu verstehen - und milder über sie zu urteilen.

"Das Erste, was es zu begreifen gilt, ist: Mütter sind Menschen“, schreibt die Psychotherapeutin in ihrem anregenden Buch. Vor allem aber: "Die Mutter kennenzulernen heißt, sich selbst kennenzulernen. Der eigenen Mutter näherzukommen bedeutet, sich selbst näherzukommen.“ Sich völlig von ihr freizumachen, sei jedenfalls unmöglich: Schließlich trägt man sie, frei nach Benn, wie eine Wunde auf der Stirn.

Rabentöchter. Warum ich meine Mutter trotzdem liebe

Von Julia Onken Verlag C.H.Beck, München 2011 180 S., kart.,

* 13,40

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung