Franck - © Foto: Imago / Hartenfelser

„Welten auseinander“: „Die Wildnis einer Herkunft“

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Ein Leben, das ungeheuerlicher nicht erfunden hätte werden können. Die deutsche Autorin Julia Franck wählt für ihre neue Publikation „Welten auseinander“ einen autofiktionalen Zugang, um die Kindheit einer jungen Frau bis zu ihrem Erwachsenwerden zu beschreiben.

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Ein Leben, das ungeheuerlicher nicht erfunden hätte werden können. Die deutsche Autorin Julia Franck wählt für ihre neue Publikation „Welten auseinander“ einen autofiktionalen Zugang, um die Kindheit einer jungen Frau bis zu ihrem Erwachsenwerden zu beschreiben.

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Es braucht oft viel Mut, wenn man sich schreibend an das eigene Leben wagt, und schon sehr viel Mut, wenn Kindheit und Jugend einer Rallye durch Verwahrlosung, Wildnis und Tragik gleichen. Die in Berlin geborene, sehr erfolgreiche Autorin Julia Franck schreibt gleich zu Beginn ihrer jüngsten Veröffentlichung programmatisch, dass sich „keine reale Person in einer der Figuren dieses Buches wiedererkennen“ würde: „Oft liegen unsere Geschichten und unsere Sicht auf die Wirklichkeit Welten auseinander.“ Ihr Blick zurück speist sich aus weit zurückliegenden Erinnerungen und unterschiedlichen Erfahrungen. Tagebucheinträge von früher lassen sie die eigene Fremdheit in großem Ausmaß spüren. Trotzdem spielt Franck immer wieder bewusst mit Fragen der Autofiktion, wenn reale Namen fallen und autobiografisches Schreiben konkret zum Thema wird: „Die Ereignisse und Begebenheiten in meiner Familie ließen sich literarisch kaum erzählen, so unwahrscheinlich und grell waren sie. Ich würde warten wollen, bis meine Großmutter gestorben ist, aus Respekt vor ihrem Schmerz. So dringend wie in allen anderen Familien, in denen das Schrecklichste geschieht, werfen Menschen den Mantel des Schweigens über das Unerträgliche, das Unsagbare, das, was nicht sein kann, weil es nicht sein darf. Es darf nicht gesehen und nicht bekannt werden.“

Nomadin, Flüchtige und fast Waise

In dieser Prosa stellt Franck die Beziehung der Protagonistin zu Stephan an den Anfang. Innig miteinander kommunizierende Seelenverwandte sind die beiden und doch aus völlig unterschiedlichen Welten. Sie kommt „aus dem Chaos, Ost, Nord, West, als Nomadin, Flüchtige und fast Waise daher“, er aus einem geordneten, behüteten großbürgerlichen Umfeld. Die Begegnung mit ihm bleibt Fluchtpunkt das gesamte Erzählen entlang – aufgehoben in einem geheimnisvollen poetischen Kosmos der Liebe. Von hier aus beginnt die Schürfarbeit, das SichZurücktasten zu Wurzeln, zu frühester Kindheit und Jugend.

Geboren sind das Mädchen und seine Zwillingsschwester im damaligen Ostberlin. Ihre Mutter Anna, eine glücklose Schauspielerin, beschließt, mit ihren vier Töchtern wegzugehen, was nach vielen Abweisungen endlich gelingt. Zunächst befinden sie sich in einem Flüchtlingslager, dann nimmt Schleswig-Holstein die Familie auf und versorgt sie als Sozialfall. Anna lebt mit den Kindern, die verschiedene Väter haben, quasi als Alleinerzieherin in einem alten, heruntergekommenen Bauernhof als Aussteigerin und Selbstversorgerin. Die Mädchen besuchen eine Waldorfschule und sind von klein auf ganz auf sich allein gestellt. Zahnbürsten kennen sie nicht, genauso wenig wie Kämme oder regelmäßiges Waschen. Sie versorgen sich bald selbst, machen den Haushalt und kümmern sich um ihre jüngere Schwester. Erst viel später erfährt man, dass die Mutter die Zwillinge aufgrund ihrer Überforderung bald nach der Geburt zu einer Pflegefamilie gegeben hat, sie aber dennoch nach einiger Zeit wieder zurückgeholt hat.

Verästelte Familiengeschichte

Viel Kontakt haben die Kinder zu ihrer nach wie vor in Ostberlin lebenden Großmutter Inge Hunzinger, einer Bildhauerin, die Erziehung ähnlich handhabt wie ihre Tochter und eine überzeugte Kommunistin ist. Auch ihre Geschichte ist bitter. Als Halbjüdin muss sie emigrieren und darf den Vater ihrer Kinder, ihre große Liebe, nicht heiraten. Sie verliert ihn auf tragische Weise im Krieg. In gewisser Hinsicht bleibt unklar, ob sie mit der Stasi kollaboriert hat oder nur selbst bespitzelt worden ist. Einsicht in ihre Akten hat sie nie genommen. Bei den Besuchern in den Häusern der Großmutter und der Mutter handelt es sich häufig um sehr bekannte Persönlichkeiten aus der Kunst-, Musik- und Literaturszene. Man lebt mit Kultur. Irgendwann nimmt der Vater peripher Kontakt mit der Jugendlichen auf. Als er schwer erkrankt, begleitet sie ihn bis zu seinem Tod. Schon früher einmal hat Franck die Begegnung zwischen Vater und Tochter in ihrer Kurzgeschichte „Streuselschnecke“ literarisch festgehalten, die sie nun auch in diese Prosa in zwei Teilen eingewebt hat.

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