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Rauschgift als Gestaltungskraft

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BEKENNTNISSE EINES ENGLISCHEN OPIUMESSERS UND ANDERE SCHRIFTEN. Von Thomas de Quincey, deutsch von Walter Schmiele. Goverts Nene Bibliothek der Weltliteratur, Stuttgart, 1962. Preis 22 DM.

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BEKENNTNISSE EINES ENGLISCHEN OPIUMESSERS UND ANDERE SCHRIFTEN. Von Thomas de Quincey, deutsch von Walter Schmiele. Goverts Nene Bibliothek der Weltliteratur, Stuttgart, 1962. Preis 22 DM.

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Dcr gewisse snobistische Reiz, den Titel wie „Bekenntnisse eines englischen Opiumessers“ oder „Der Mord als eine schöne Kunst betrachtet“ auszulösen vermögen, hat Thomas de Quinccy — und das nicht nur in der deutschsprachigen Welt — einen gewissen Außenseiterrahm eingetragen. Mehr zitiert als gelesen, war es bisher nicht recht möglich, diesen englischen Autor der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts literarhistorisch und geistesgeschichtlich einzuordnen. Die nun hei Goverts in einer vorzüglichen deutschen Übertragung vorliegenden Essays — neben den oben zitierten bekanntesten noch „Suspiiia de Profundis, eine neue Folge der Bekenntnisse eines englischen Opiumessers“ und „Die englische Postkutsche“ — legen diese Orientierung 'endlich nahe.

„Der Mord als eine schöne Kunst betrachtet“ enttäuscht heute, in einem Zeitalter der Pflege und der Ausfeilung des Absurden, was vor allem auf das Fehlen einer zielbewußten und konsequenten Aggression zurückzuführen ist; hingegen erweist sich das formal aus dem Rahmen fallende letzte Kapitel, in dem einige berühmte Kriminalfälle der Zeit wohl psychologisiett, jedoch ganz im Stil der pathetischen Gerichtssaalkolportage berichtet werden, als ein Vorläufer der englischen Kriminalmoritat.

Die wirklich bedeutende Leistung de Quinceys liegt unzweifelhaft in den „Bekenntnissen eines englischen Opiumessers“, die seinen mehr als ein halbes Jahrhundert hindurch geführten persönlichen Kampf gegen das Rauschgift widerspiegeln. De Quincey ist in seinem Geschmack, in seinen politischen und sozialen Anschauungen das Mittelmaß eines englischen Bürgers seiner Zeit, der sich nur aus Existenznot zu journalistischer Arbeit drängen Keß. Als Außenseiter kennzeichnen ihn allein das Rauschgift und seine Leseleidenschaft, die aus ihm aber keinen alexandrinischen Geist, sondern einen Bücherwurm machen. Das läßt auch der formale Aufbau seiner Schriften erkennen, die aus Anreicherung und Addition entstanden sind. Und aus diesem mittelmäßigen, übtrbelesenen Eigenbrötler, dem als einziger äußerer Anstoß nur die deutsche Romantik zur Anregung und zum Verhängnis wurde — seine Verwandtschaft mit Jean Paul ist nicht zufällig —, schafft das Gift, die Sucht, einen Gestalter, dessen Hauptwerk mit Recht zur Weltliteratur gezählt werden darf. Die Bedeutung de Quinceys scheint jedoch nicht so sehr in der allgemeinen Tatsache seiner Süchtigkeit zu liegen und in der Einbeziehung des Traumes und der Vision in sein Werk, denn in der Spezifisierung seines Traumes. Der Traum ist ihm kein Mittel zur Erreichung des Ungeschautcn, des rein Visionären, der Welt jenseits aller bekannten Horizonte, sondern Mittel zur immer wieder vorgenommenen Verlebendigung der Jugend und der Kindheit; er verwandelt ihm die Pfade, auf denen er die einzig unbeschwerte Zeit seines Lebens, seine frühe Jugend, zu finden weiß, in einem Maß, das seine Schilderung zum Kunstwerk erhebt.

De Quincey wurde von Baudelaire ins Französische übersetzt. Für Proust war Baudelaire — dem er übrigens in seinem Alter noch eine eingehende Studie widmete — eine Bestätigung der eigenen Arbeitsweise. Bei de Quincey und bei Proust finden wir die durch Krankheit bedingte Hypersensibilität, die völlige Ausgerichtetheit des Lebens in die Erinnerung; und wie bei Proust, der ausersehen war, die Geschichten der Tausend und der einen Nacht in seiner Zeit nachzuträumen, entzünden sich auch bei de Quincey Rauschvisionen an den Bildvorlagen dieser Tradition.

Man wird de Quincey als Ahnherrn neuer Erlebnis- und Gestaltungswelten künftighin nicht mehr übersehen dürfen.

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