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Abgesagt

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Ich bin traurig. Noch immer. Anscheinend anhaltend. Wir sind nicht nach Rußland gefahren. Wir mit dem Burgtheater. Uber die Gründe unserer Absage ist viel durch den Blätterwald gerauscht, Berufene haben das Politi-kum dieser Absage kommentiert, Intelligentes und Dümmliches war darüber in sämtlichen Medien zu hören und zu lesen und inzwischen ist die kleine, aluminium- oder blechbeschlagene Kiste mit den Habseligkeiten, derer meine „Iphigenie" auf der Bühne bedarf, längst wieder heimgekehrt, steht ein wenig verloren und mit einem inaktuell gewordenen Zettel „Moskau" beklebt auf dem Gang vor meiner Garderobe im Akademietheater an der Wand und wehrt meine melancholische Begrüßung mit schloßversperrter Zugeknöpftheit ab.

Es muß ihr ein bisserl peinlich sein, „nur" bis Polen gekommen zu sein. Dort nämlich dürfte unsere Absage den Dekorationstransport erreicht und zur Umkehr veranlaßt haben. Das Goldband, das Goethes Atridentochter im Haar trägt, meine Puderquaste und das zerfledderte Textbuch liegen wieder auf meinem Schminktisch und träumen halt wieder von Haifa, Weiz und Güs-sing, von Badgastein, Meran und Jerusalem, von Sofia, Steyr und Ludwigsburg, von Belgrad, Hamburg und Tel Aviv, denn dort waren wir schon überall, die „Iphigenie auf Tauris" in der Urfassung 1779 und ich. (

Im russischen Winter halt nicht. Nicht auf dem Roten Platz, nicht auf dem Dwarzowaja-Platz, nicht vor dem Winterpalast, nicht am Newski-Pro-spekt, nicht an der Kremlmauer, nicht in Sagorsk - und mit keinem einzigen russischen Menschen gesprochen. Viele von ihnen haben sich lange, lange auf uns gefreut, noch sollen unsere Plakate hängen.

In meinem Reisepaß ist noch das fliederfarbene russische Visum eingelegt, auf meinem Schreibtisch liegt der Bildband über Rußland (zurückgeben, er ist ausgeborgt!), das hektographierte russische Alphabet und danebenstehend seine Transkription in für uns Leserliches, drei Seiten mit den „Vorschriften über die Einfuhr in die UdSSR und Ausfuhr aus der UdSSR verschiedener Gegenstände ... Jetzt, in dieser Minute ginge im Moskauer Künstlertheater „Iphigenie" zu Ende. Agamemnons Älteste darf Tauris, also die Krim, verlassen und in ihre Heimat zurückkehren. Iphigenie kehrt aus den Ursprüngen ihrer Geschichte in die Ursprünge ihres Dichters heim.

Statt dessen sitze ich halt hier in Wien vor der Schreibmaschine und denke darüber nach, was heute abend alles ungesagt bleiben mußte durch diese Absage. Was alles heute abend nicht entzündet werden konnte. Was nicht vorgedacht und von vielen, vielen Menschen nicht mitgedacht werden durfte.

Ich habe nicht sagen dürfen: „Laß zwischen den Deinen und uns ein freundlich Gastrecht künftig walten, so sind wir nicht auf ewig abgeschieden. Kommt der Geringste Deines Volks dereinst zu uns, so will ich ihn empfangen wie einen Gott..."

Und so vieles andere auch nicht, heute abend in Moskau. Nachzulesen bei Goethe. Zollfrei und mit gültigem Visum eingeführt in das Land Gorkis, Dostojewskis, Tolstois, Tschechows und Puschkins.

Das Plädoyer für die Menschenrechte hab ich nicht einführen dürfen und nicht ausführen das Wissen, daß es verstanden wurde. Politisch Lied ...?

Ich weiß schon, warum die Trauer so anhält.

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