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Neue, rauhe Wirklichkeit

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Während USA-Außenminister Henry Kissinger energisch um weitere Fortschritte auf dem Weg zu einem Friedensschluß zwischen den ehemaligen Kriegsgegnern im Xahostkonflikt bemüht ist, gerät der bislang fast unbeteiligte Libanon in einen tödlichen Strudel innerer und äußerer Bedrohung.. Schuld daran sind nicht mehr allein die Palästina-Guerillas, sondern die jahrelang ignorierten ““religiösen und sozialen Konfliktstoffe.

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Während USA-Außenminister Henry Kissinger energisch um weitere Fortschritte auf dem Weg zu einem Friedensschluß zwischen den ehemaligen Kriegsgegnern im Xahostkonflikt bemüht ist, gerät der bislang fast unbeteiligte Libanon in einen tödlichen Strudel innerer und äußerer Bedrohung.. Schuld daran sind nicht mehr allein die Palästina-Guerillas, sondern die jahrelang ignorierten ““religiösen und sozialen Konfliktstoffe.

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Während sich in der südlibanesischen Hafenstadt Sidon mehr als 50.000 Menschen zur Beerdigung eines bei regierungsfeindlichen Demonstrationen getöteten muselmanischen Parlamentsabgeordneten scharten, rollte die Roulettekugel in dem nördlich der Hauptstadt Beirut gelegenen „Casino du Liban“ ungestört weiter, und die maronistische „Jeunesse doree“ erholte sich vom anstrengenden Nichtstun bei einer Luxusrevue mit Farben, Licht und halbnackten Körpern. In Beirut selbst herrscht nach einigen Demonstrationen äußere Ruhe. Doch es ist nichts mehr, wie es war. Armee und Polizei sind auf der Hut. Jederzeit könnte ein Fünkchen das bis zum Bersten gefüllte Pulverfaß in die Luft jagen. Der Rücktritt eines Ministers hat eine Regierungskrise ausgelöst, von der zweifelhaft ist, ob der energische Präsident Suleiman Frandschiej und sein farbloser Premierminister Takieddin es-Solh sie noch einmal lösen können. Was in Präsidentenpalast, Regierungssitz und Parlament vorgeht, verliert ohnehin unaufhaltsam an Bedeutung.

Auf den Straßen und in geheimen Trainingscamps macht sich eine neue Wirklichkeit bemerkbar. Die Christen hoffen, sich durch hoch-diziplinierte und erstklassig bewaffnete Privatarmeen zu schützen. Die Moslems haben die Massen für sich und vertrauen auf die palästinensischen „Fedaijin“ in den Flüchtlingslagern. Als der Libanon unabhängig wurde, bildeten die Maroniten eine schmale Mehrheit, die Moslems waren die Minderheit. Knapp 40 Jahre später hat sich dieses Verhältais längst umgekehrt, doch man hat die neuen Verhältnisse um des inneren Friedens willen einfach ingoriert. Keine Volkszählung gibt Aufschluß. Die Christen bilden noch immer die Ober-, die Moslems die sich immer mehr benachteiligt fühlende Unterschicht. Hinzu kommt, daß sich das Sozialgefälle seit dem Sechstagekrieg von 1967 vergrößert hat. Die Reichen wurden vom Ausbleiben der Touristen und der Verringerung des Transithandels kaum betroffen, die ohnehin Armen gerieten vielfach ins Elend.

Diese Lage und die israelischen Gegenschläge gegen palästinensische Terrorüberfälle führten zu einer Solidarisierung zwischen den libanesischen Moslems und den Guerillas. Die „Palästinensische Be freiungsorganisation“ (PLO) trug dazu bei durch tatkräftige soziale Maßnahmen.

Unterdessen hat anch die schiitisch-muselmanische Religionsgemeinschaft ihr soziales Gewissen entdeckt. Ihr 57jähriges geistliches Oberhaupt, Imam Mussa Sadr, marschierte an der Spitze der Beerdigungsdemonstration von Sidon. Der hochgewachseneKirchenfürst

spricht immer offener von notwendigen revolutionären Veränderungen in Religion und Gesellschaft. Er ist ein gefährlicher Gegenspieler für das maronitische Establishment und seine muselmanischen Kollaborateure. Während die Moslems immer aufsässiger werden, herrscht bei den Christen Nervosität. Das innige Gleichgewicht zwischen den beiden libanesischen Religionsgemeinschaften funktioniert nicht mehr.

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