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Intellektuelle und Sarajewo

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Die Ratlosigkeit der Intellektuellen wurde und wird in den Medien vielfach beklagt, aber diese Klagen haben nur eine noch größere Ratlosigkeit bewirkt — zu Sarajewo fällt eigentlich keinem Intellektuellen etwas ein. Vor dieser Katastrophe des Irrationalen steht die Welt, und nicht nur die Intellektuellen, fassungslos, und wenn die dortige gegenseitige Vernichtung weitergeht, so scheinen gleichzeitig alle Instrumentarien sowohl der Intellektuellen als auch der kompetenten westlichen Politiker (und übrigens auch der östlichen aus Moskau) total überfordert. Gegen einen Wahnsinnsakt, wie er derzeit auf dem Balkan sich vollzieht, hatte man keine Methode. Gerade die nationalen Kategorien, in denen sich seit der Aufklärung die Weltpolitik abspielt, sind für nationalistische Kriege von außen her nicht offensiv anwendbar: hat doch jede Nation ihr Recht auf Selbstbestimmung und bei Zerfleischungskriegen gegeneinander konsequenterweise auch das Recht, diese Kriege auszutragen. Daß keine Nation für sich allein lebt und ein solcher Krieg auf die Welt über greifen kann, daß außerdem meist keineswegs die gesamte Bevölkerung der betroffenen Länder diese Kriege wünscht, solche Gedanken sind in der nationalstaatlichen Ordnung nicht vorgesehen. So findet eben jene Eingrenzung und Isolierung des Krieges statt, wie wir sie jetzt beobachten. Nichts anderes geschah bereits in der Zeit des „Kalten Krieges“ mit der Sowjetunion. Die Schauprozesse einst, die Bürgerkriege nach der Oktoberrevolution, die mehrere zehn Millionen Tote kosteten, die Gulags mit vielen Millionen Gefangenen — all das konnte geschehen, wobei sich die UdSSR empört auf Nichteinmischung berief. „Sarajewo“ - das geschieht seit dem Ersten Weltkrieg keineswegs zum ersten Mal. Die Menschenvemichtung in der UdSSR seit der Oktoberrevolution forderte noch schrecklichere Opferzahlen. Allerdings versäumten die Demokratien schon damals Und auch zur Zeit des aufstrebenden Hitler, sich bei den Katastrophen in anderen Ländern rechtzeitig einzumischen. „Sarajewo“ steht nicht nur für den heutigen Balkan. Ähnlich wie heute hat sich die damalige demokratische Welt gegenüber dem aufkommenden Kommunismus unter Lenin und Stalin, dann gegen den die Macht ergreifenden Hitler und seine Eroberungszüge verhalten.

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