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Reflexionen eines einsamen Rufers

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Im historischen Rückblick wird die österreichische Sozialdemokratie der Ersten Republik durch das Dioskurenpaar Karl Renner und Otto Bauer dominiert. Das hat zwar eine gewisse Berechtigung, eine solche Betrachtung verleitet aber dazu, das Wirken anderer Persönlichkeiten der „linken Reichshälfte“ zu kurz kommen zu lassen. Und unter diesen waren nicht nur „gentes mino- res .

Einer dieser Männer aus der bunten Palette der Persönlichkeiten — sehr selbständiger Persönlichkeiten mitunter —, die damals den österreichischen Sozialismus bereicherten und ihm Farbe und Anziehungskraft verliehen, war Wilhelm Ellenbogen. Durch die Herausgabe seiner Erinnerungen und Reflexionen wird zu Recht ein Politiker der bewegten Zwischenkriegszeit dem Schattenreich entrissen und einem Mann, der Parteigesinnung mit Toleranz und Uberzeugungstreue mit eigenständigem Denken wohl zu verbinden wußte, historische Gerechtigkeit zuteil.

Wie so mancher andere führende Kopf der österreichischen So-

zialdemokratie stammte Ellenbogen aus dem böhmisch-mährischen Raum. 1863 wurde er hier in Lundenburg/Breclav geboren. Der Sohn eines jüdischen Volksschullehrers wuchs in der charakteristisch deutsch-liberalen Atmosphäre seiner Zeit und seines Milieus auf, wurde Arzt und fand

— beinahe wäre man versucht zu sagen, „berufsbedingt“ — in der Wiener Vorstadt Gumpendorf zur jungen sozialistischen Bewegung.

Trotz vieler Parallelen im Lebensweg verhielt sich Viktor Adler zunächst gegen den jugendlich aggressiven Berufskollegen zurückhaltend. Das ewige Generationsproblem, heute so aktuell wie damals, spielte ohne Zweifel hier auch schon eine Rolle. Trotz eines zeitlebens mitunter verbalen Radikalismus waren Ellenbogens geistige Wurzeln jedoch nicht beim Marxismus zu finden, sondern eher beim deutschen „Sturm und Drang“. Deshalb lehnte er auch den Atheismus als Bestandteil der sozialistischen Ideologie ab und sprach sich aus innerster Überzeugung für eine Schonung der religiösen Gefühle potentieller Genossen aus.

Auch der Automatismus der historischen Entwicklung, die — Ot- toBauersverhängnisvoller Irrtum

— zwangsläufig zum Sozialismus hinführen müsse, wurde von Ellenbogen nicht anerkannt. Er trat vielmehr offen in den späten zwanziger und frühen dreißiger Jahren im Parteivorstand für die Annahme der Koalitionsangebote der bürgerlichen Seite ein. Zum Schaden seiner Partei und der Republik blieb er jedoch ein einsamer Rufer.

In den vorgelegten, auf der Flucht und Emigration verfaßten Lebenserinnerungen — Ellenbogen starb hochbetagt 1951 in New York — fesseln vor allem die äußerst vornehm geschriebenen Porträts seiner Zeitgenossen. Auch Kaiser Franz Joseph und Ignaz Seipel wird aus der Sicht eines alles anders als unkritischen Sozialdemokraten hier Gerechtigkeit zuteil.

MENSCHEN UND PRINZIPIEN. Erinnerungen, Urteile und Reflexionen eines kritischen Sozialdemokraten. Von Wilhelm Ellenbogen. (Veröffentlichungen der Kommission für neue Geschichte Österreichs, Band 71); Verlag Böhlau, Wien-Köln-Graz 1981.195 Seiten, Lm, öS 368,-.

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