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Zwischen Pawlatsche und Pornographie

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BeimBerliner Theatertreffen wurdeeineFaust-Inszenierung von Claus Peymann gezeigt, die der Zerstörung des Theaters, der Entwürdigung seiner Klassiker und seines Publikums, neue Maßstäbe setzt. Unrat wurde in den letzten Jahren zum immer beliebteren Theaterrequisit. Hier, so hat es den Anschein, stehen der Unrat und die Blasphemie erstmals im Mittelpunkt eines Regiekonzeptes, um den sich alles dreht. Peymann erklärt seine Inszenierung zum „Politikum“. Das ist sie. Aber anders, als er es meint.

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BeimBerliner Theatertreffen wurdeeineFaust-Inszenierung von Claus Peymann gezeigt, die der Zerstörung des Theaters, der Entwürdigung seiner Klassiker und seines Publikums, neue Maßstäbe setzt. Unrat wurde in den letzten Jahren zum immer beliebteren Theaterrequisit. Hier, so hat es den Anschein, stehen der Unrat und die Blasphemie erstmals im Mittelpunkt eines Regiekonzeptes, um den sich alles dreht. Peymann erklärt seine Inszenierung zum „Politikum“. Das ist sie. Aber anders, als er es meint.

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Vor einem Jahr befremdete Otomar Krejča das Wiener Publikum mit seiner Faust-Collage, seinen willkürlichen Manipulationen, mit denen er ganze Szenen eliminierte oder simultan nebeneinander ablaufen ließ, im Dialog erwähnte Personen leibhaftig ins Bild brachte, Solisten verdreifachte, Monologe durch Sprechchöre zerschnitt, auseinanderliegende Textstellen zusammenzog und dazu optisch mit Tüchern und gelegentlichen Versatzstücken zwischen gähnender Leere und Vergnügungsetablissement ins Nirgendwo entglitt. Immerhin wahrte Krejča bei aller Vielfalt noch Einheit, bei aller Wirrnis noch Linie und vor allem einen gewissen Respekt vor dem Dichterwort.

Anders der Stuttgarter Theaterdirektor Claus Peymann mit seinem Bühnenbildner Achim Freyer. Er nimmt Goethe wörtlich: „Gebt Ihr ein Stück, so gebt es gleich in Stücken Also inszeniert er in einem Kasperltheater der Tragödie Ersten Teil als klamaukige Pawlatsche, als Parodie. Eine als Lazarus verhüllte, gesichtslose Krankenschwester schiebt einen zerfetzten Sessel mit roter Glühbirne an der Rückenlehne auf die Bühne, aus dessen Seegras eine zur Faust geballte Hand ragt, dabei die „Zueignung“ säuselnd. Gottvater mit Rauschebart, im rosa Mäntelchen, schaukelt gemütlich zwischen kochtopfbehelmten, riesige Goldfernrohre tragenden „Engelchen“ auf der Beleuchterbrücke und unterhält sich jovial mit Mephisto als seinesgleichen. Faust wühlt mit der Nase im Unrat wie ein Erdferkel und beklagt seinen Bildungsüberdruß, bis ihm der Verführer- zunächst als pude- liges Stoffmonster, dann als roter Lumpenjunker - durch aufmuntem- des Winken mit dem Phallus seinen Nachholbedarf klarmacht, den er als Nackter unter Halbnackten eigentlich schon in der Hexenküche hätte stillen können, wo Urin mit Weihwasserbesen von Popanzklerikern verspritzt wird. So gut wie kein einziger Darsteller besitzt zudem Format. Zwischen Lispeln und Schreien, Berlinern und Sächseln oder Schwäbeln gibt es in diesem Dilettantenensemble kaum einen Anflug von Persönlichkeit - bis auf Branko Samarowski (Mephisto), der wenigstens einen Hauch von Sprechkultur aufzuweisen hat. Und nur auf Klamottenniveau läßt sich ein Faust von Goethe nicht zeitgemäß interpretieren, wenn auch Peymann vorgibt, sein Spiel sei ein Politikum und als bewußte Umerziehung des Publikums konzipiert. Umerziehung? Wohin? Wozu? Und - von wem?

Im zweiten Teil zwängt der Regisseur die dichtgedrängten Zuschauerscharen ins Theaterfoyer. Auf verschiedenen Schauplätzen tummeln sich die Clowns, deren alberne Schreie von lautstarker Blechmusik begleitet werden. Fäkalgeräusche und -attribute dominieren: der Hanswurst-Kaiser sitzt auf hermelinumkränztem, goldenen Klosett, betätigt oftmals die mikrophonverstärkte Wasserspülung, und in seinen Exkrementen wühlen des Reiches Minister. Vor den Foy- erfenstem gaukeln Helena und Paris als weiße Marionetten, zwischen den Zuschauern werden Riesenelefanten und anderes Getier herumgezogen, agieren Tölpel mit überdimensionalen Baumstämmen. Faust selbst dröhnt von einem Eisberg aus Stoffetzen herab. Uber die Hauptbühne im Zuschauerraum wackelt Helena als glatzköpfige weiße Mumie auf halbmeterhohen Silberkothurnen, umgeben von Popdamen mit blitzlichtenden Phqtoap- paraten, rutschen Engel an Seilen herunter oder kommen im Hubschrauber, balgen sich schließlich mit Mephisto um Faustens Seele, einen langen blauen Seidenschal, der dekorativ um die einen Wattehimmel mit Ballett- röckchen tragenden Engel-Trampeln geschlungen wird.

Dazwischen vereinzelt Szenen, die sogar optisch beeindrucken: der ephebische Homunkulus mit Glüh- birnchen am Astralleib, ein weites Meer aus bewegter Silberfolie, das Schrebergartenglück von Philemon und Baucis in der Schäfchenwiese, des greisen Faust Etablissement aus der Gründerzeit mit Schwimmbad und einfahrendem Schiffsbug.

Nur um so katastrophaler wieder das Finale: bei Arbeitslicht zitieren die kostümierten Fratzen ein paar vage, unzusammenhängende Verse. Dieser Fäkalien-Faust, von Goethe Lichtjahre entfernt, ist nur noch der Vorwand für eine Orgie von Schweinereien und für die Selbstinszenierung eines Regisseurs.

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