"Aversionen gegen die Elendsten, das ist neu"

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Karl-Markus Gauß über ideologielose Barmherzigkeit, die Rede von der "Bettlermafia", das Menschenrecht auf Sichtbarkeit und die Gefahr der Selbstbarbarisierung.

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Karl-Markus Gauß über ideologielose Barmherzigkeit, die Rede von der "Bettlermafia", das Menschenrecht auf Sichtbarkeit und die Gefahr der Selbstbarbarisierung.

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In seiner Reportage "Die Hundeesser von Svinia" (Zsolnay 2004) hat der Schriftsteller Karl-Markus Gauß ein eindrückliches Bild der Lebenssituation der slowakischen Roma gezeichnet. Im FURCHE-Interview spricht er über die wachsenden Ressentiments gegen bettelnde Menschen - und über das Phänomen, dass es keinen "typischen" Geber gibt.

DIE FURCHE: Herr Gauß, warum gibt es heute mehr Bettler als früher?

Karl-Markus Gauß: Wir haben in den letzten 20 Jahren real mit einer Verarmung zu kämpfen, die aber manche aus ihren privilegierten Schutzpositionen oder auch aus einem Harmoniebedürfnis heraus nicht zur Kenntnis nehmen wollen. Man kann dann sagen, "die Bettler, das sind halt randständige, halb kriminelle oder faule Menschen". Doch wenn man tiefer blickt, muss man sehen, dass es einen gesellschaftlichen Prozess gibt, der zu einer wachsenden Zahl von Armen geführt hat. Die kommen natürlich teilweise aus Osteuropa, aber nicht nur: Es gibt auch Salzburger Arme.

DIE FURCHE: Sie haben von der Beobachtung erzählt, wie ein Pärchen in Lodenkleidung einem Bettler Geld gegeben hat -und wenig später ein junger, langhaariger Bursch in Jeans den Becher des Bettlers umgetreten hat

Gauß: Man kann sich auf nichts mehr verlassen. Früher hat man geglaubt, es an der Kleidung zu erkennen, wes Geistes Kind jemand ist. Das gibt es heute nicht mehr. Wie Dimitré Dinev gemeint hat: Barmherzigkeit ist etwas, das einen individuell fordert - und das geht auch bei Menschen mit verschiedenen ideologischen Grundhaltungen quer durch.

DIE FURCHE: Was macht es den Leuten so schwer, auf Bettler zuzugehen und ihnen zu geben?

Gauß: Menschen, die im Mittelstand leben und vermeintlich sicher sind, spüren im Anblick des Bettlers, dass auch ihnen einmal so etwas passieren könnte. Das andere ist vielleicht die Ahnung, dass zwar unser Reichtum nicht einfach auf der Armut der anderen gründet, dass aber unser Wohlstand schon auch damit zu tun hat, wie es in anderen Ländern zugeht. Die osteuropäischen Länder sind innerhalb der EU von kapitalstarken Firmen aufgekauft und zu Tode saniert worden, mit zehntausenden Entlassungen, und da waren die Roma immer die ersten. Und ein schlechtes Gewissen, das mag man einfach nicht haben.

DIE FURCHE: Gibt es eine "Bettlermafia"?

Gauß: Eine Bettlermafia gibt es ganz sicher nicht, aber ich bin ja kein Romantiker der Roma-Zuneigung. Es gibt sicher da und dort ausbeuterische Verhältnisse unter den Roma - warum sollen ausgerechnet jene edlere Menschen sein, denen es schlechter geht?

DIE FURCHE: Warum sind dann ausgerechnet die Roma immer die Zielscheibe der Ablehnung?

Gauß: Zum einen gibt es ein uraltes Ressentiment, das man schon als rassistisch beschreiben könnte; und dann sind die Roma optisch sichtlich die Alleruntersten. Das Phänomen, dass man nicht mehr eine Aversion gegen die "G'stopften" oben hat, sondern gegen die Elendsten ganz unten, das ist allerding relativ neu, das gibt es erst seit 20,30 Jahren.

DIE FURCHE: Womit hängt dieser Wandel zusammen?

Gauß: Das ist eine Frucht des Neoliberalismus, auch wenn das heute ein unscharfer Begriff ist. Der Wandel hängt sicherlich mit dem realen Zerfall der Gesellschaft zusammen - die aus einer einigermaßen solidarischen Gemeinschaft in lauter einzelne und vereinzelte Menschen zerfällt, die schauen, wie sie selber gerade durchkommen und ein Gemeinschaftsgefühl verloren haben.

DIE FURCHE: Früher war es eine gute Tat, Bettlern zu geben. Heute wird man dafür mitunter beschimpft

Gauß: Dem Bettler etwas zu geben, das war in früheren Zeiten auch eine Möglichkeit, sich einen gewissen Ablass für Sünden zu erkaufen, wegen der man fürchtete, ins Fegefeuer zu kommen. Heute glaubt natürlich niemand mehr ans Fegefeuer. Ans ewige Leben glaubt man vielleicht schon noch, aber selbst da glaubt man, dass man es sich mit Geld richten kann. DIE FURCHE: Ist Betteln eine Arbeit? Gauß: Es ist ein prekärer Beruf, bei dem man keine Steuern zahlt, aber auch keine sozialen Benefizien hat. Dass sich einer acht Stunden lang hinsetzt, kniend, die Augen zu Boden gerichtet und die Hände gefaltet, das ist eine schwere körperliche Arbeit, noch dazu verbunden mit unglaublicher Verachtung von Seiten der Passanten. Ich bin ja der Auffassung, dass Menschen vor Menschen nicht knien sollen. Dieses devote Bettlerische ist für mich eine viel größere Belastung.

DIE FURCHE: Sie sagen, dass Bettler sichtbar werden sollen. Warum?

Gauß: Weil Sichtbarkeit das eigentliche Menschenrecht ist. Die Bettler hinter Mauern verschwinden zu lassen, wo sie dann in Stille verrecken können, das ist eine furchtbare Verletzung ihrer Menschenrechte. Sie müssen für uns sichtbar sein. Es geht um bedrängte Bettler, die in einer schwierigen Situation sind und daher Unterstützung verdienen, auch von meiner eigenen Gesellschaft. Was bedeutet das für mich, wenn ich es nicht mehr aushalten kann, einen Armen zu sehen?

DIE FURCHE: Können Bettler uns nützen?

Gauß: Sie können uns vor der Selbstbarbarisierung schützen - davor, dass wir schlechtere Menschen werden, weil wir bestimmte Dinge nicht zur Kenntnis nehmen wollen. Und ich schließe mich da nicht aus.

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