Die zunehmend ökonomisch orientierte Grundhaltung im Westen läßt allzuleicht eine im Bereich der Geisteswissenschaften in Rußland hochinteressante Entwicklung unerkannt: dort nämlich wurde nach dem Zusammenbruch des Kommunismus ein Thema nicht nur in den Vordergrund vieler intellektueller Debatten, sondern auch des akademischen Lebens gerückt - die Kulturologie. Nach der totalen Entwertung des "Marxismus-Leninismus" war ein Vakuum deutlich geworden, das nach dem Versagen dieser Lehre ohnedies in Wahrheit lange schon bestanden hatte. Der naheliegende Ausweg aus dieser Situation war die Suche nach einem keineswegs festliegenden, jedoch ernsthaft zu suchenden neuen geistigen Inhalt.
Die Kultur als solche war kein schlechter Blickpunkt. Kultur als Synthese von Ethik, Ästhetik, von Lebensgestaltung im Sinn humanistischen Denkens konnte eine Wegrichtung sein, die aus der schweren weltanschaulichen Krise heraushilft. Mit der marxistischen These, daß die Ökonomie und die gesellschaftliche Strukturveränderung das Glück stifte, hatte man nur die Katastrophe erreicht. Jetzt also versucht man die ganz andere Idee: Die Kultur erbringt den Lebensinhalt und die Lebensgestaltung. Zuerst müsse sich der Mensch klar werden, was er in seinem Dasein anstrebe, worin er sein Lebensziel und sein Glück finde, dann könne er, ausgehend von seiner Individualität, das eigene Leben sinnvoll gestalten.
Während man im Westen von der unheilvollen These des "Anything goes" (Paul Feyerabend) nicht Abschied zu nehmen imstande ist, befinden sich die Intellektuellen im postkommunistischen Osten auf der existentiellen Suche nach lebenstragendem Inhalt. Die historische Pointe: eben jetzt ist der demokratische Westen in Gefahr, der totalen Ökonomie zu verfallen. In Rußland wurde Kulturologie zum Pflichtfach an Universitäten und Hochschulen, sie kann als Hauptfach gewählt werden, eine wichtige Literatur entsteht zu diesem Thema. Kultur als Kern der Lebensgestaltung, humanistisches Wertbewußtsein, Besinnung auf europäische Kontinuität, auf Sinnhaftigkeit und bewußte Reflexion über diese Möglichkeiten - welch ein Gegensatz zur oft so akuten Verhöhnung von Humanität wie man sie in Theatern, Künsten, Hochschulen im Westen erlebt.
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