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Die Auslegung und das Wesen

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Nicht nur in Einzelheiten, auch als Ganzes wurde Rerum novarum verschieden interpretiert. Einige Exegeten hielten sie für eine Entscheidung des unfehlbaren Lehramtes der Kirche. Demgegenüber betonte der Bonner Moralist Wilhelm Schwer, „daß soziale Fragen, sobald sie über die unveränderte Glaubensgrundlage sich erheben, überhaupt nicht durch ein Roma locuta zu lösen seien“. Andere glaubten in der Enzyklika ein sozialökonomisches Lehrbuch, beschaffen wie ein anderes auch, vor sich zu haben. Oswald von Nell-Breuning S. J. entgegnete: „Die Enzyklika ist kein Lehrbuch, bietet auch weder die systematische Vollständigkeit noch den systematischen Aufbau eines solchen.“ Man wollte dann in der Enzyklika ein bestimmtes Wirtschaftsund Gesellschaftssystem gewahren. Hie-zu vermerkte der Wiener Nationalökonom Ferdinand von Degenfeld - Schonburg: „Leo XIII. erkennt, daß es verschiedene Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme geben kann, die mit dem Christentum in Einklang stehen.“ Wieder andere ersahen in der Enzyklika ein „Antikommunistisches Manifest“, ein fixes Programm. Dagegen bemerkte der bekannte Sozialpolitiker Hans Schmitz, daß Leo XIII. es vermied, „über allgemeine Wahrheiten hinaus sich in wirtschaftliche und soziale Probleme im engeren Sinne einzulassen“. Die Kirche und damit auch Rerum novarum besitzt eben kein bestimmtes „Programm“, wohl aber eine formale Programmgrundlage für alle Programme, die sich katholisch nennen dürfen.

Die Struktur der Arbeiterenzyklika, in der sich Ideen und Interessen verschiedener Herkunft und Zeiten verschränken, kennt folglich nur diese, relativ einfachen Linien: Sie ist erstens eine lehr amtliche Kundgebung von höchster Autorität, zur Gänze aber keine unfehlbare Lehrentscheidung. Sie ist zeitlos, wo Glaubensgut sozialen Komplex berührt; sie ist zeitgebunden — in den praktischen Vorschlägen und Folgerungen. Als Zeitdokument ist Rerum novarum eine Aussage sub ratione peccati über die „bürgerliche Gesellschaft“ seit 1789. Sie ist zunächst eine Hinnahme der „kapitalistischen“ Zweiklassenordnung, dann aber eine gehörige Beschneidung ihrer „Auswüchse“ durch die ScheredesZehntafelgesetzes. Folglich zielt Rerum novarum auf Ausgleich von „Arbeit“ und „Kapital“, ihrer „berechtigten“ Interessen. Losung ist: Klassenfriede statt Klassenkampf; Mittehaltung zwischen Konkurrenz- und Kommandowirtschaft, kapitalistischer Eigentumsanhäufung und kollektivem Eigentumsentzug. Eigentum, solches auch an „Produktivgütern“, für möglichst viele, und zwar als deren „Naturrecht“, wird gefordert. Schließlich lehrt Rerum novarum: Gesinnungs- und Zuständereform. Diese obliegt dem Staat, staatlicher Sozialpolitik, im Verein mit Genossenschaften, Arbeiter- und Unternehmerverbänden; jene aber, die Reform der Herzen, der Kirche. Sie ist sich bewußt, daß jede, auch die idealste Form menschlicher Beziehungen, zur Kulisse der Ausbeutung wird, falls es an gütigen Menschen gebricht.

Der soziale Anstoß, den Rerum novarum in allen Ländern, besonders in den rückschrittlichen, gab, war ein gewaltiger. Auch die katholisch-soziale Literatur und Wissenschaft erhielt ab nun ein neues Gepräge. Von den „segensreichen Wirkungen der Rerum novarum“ spricht zutreffend vierzig Jahre später Pius XI. in seiner Quadra-gesimo anno.

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