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LEO XIII. / BAHNBRECHER DER NEUZEIT DER KIRCHE

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Einhundertundfünfzig Jahre sind es an diesem 2. März 1960, seit in Carpineto 1810 der Sohn eines kleinen Landadeligen geboren wurde: Vincenzo Gioacchino P e c c i. In dem zarten, eher schwachen Körper dieses „kleineu Mannes“ wohnte ein kühner und hoch-fliegender Geist. Dem jungen, jugendlichen Manne winkt bereits das hohe, das höchste Ziel: die Tiara. Die Gnade, die Gnade Gottes und der Geschichte will es anders; der erfolgreiche Bischof von Perugia, Legat und Nuntius, durch Gregor XVI. zum Kardina! in petto ernannt, wird „auf das Eis gelegt“. Die Papstwahl geht an ihm vorbei...

Als am 3. März, einen Tag also nach seinem Geburtstag, Kardinal Pecci 1878 zum Papst gekrönt wird, ist aus dem ehrgeizigen Strebenden ein reifer Mann geworden, der sich bereits in seinem Regierungsprogramm entschieden zu einer großen Wende bekennt. In bewußter Abkehr von der bloßen Abwehrstellung seiner Vorgänger will Papst Leo XIII.' die Kirche mit der Kultur, der Wissenschaft und der politischen Konstitution der eben begonnenen Neuzeit versöhnen. Leo XIII. ist der erste Papst, der die Demokratie als eine politische Möglichkeit anerkannt hat. „Die Freiheit, dieses so köstliche Gut der Natur, nur den Wesen zu eigen, die mit Erkenntniskraft oder Vernunft begabt sind, verleiht dem Menschen die besondere Würde, über sich selbst zu verfügen und Herr seiner Handlungen zu sein.“ Mit diesen Worten beginnt das Rundschreiben „Libertas pre-stautissimum“ vom 20. Juni 1888. Weit öffnet Leo XIII. die Tore der Kirche für den echten Fortschritt der Zeit. „Die Behauptung also, die Kirche sehe die moderne Staatsordnung nur ungern und weise alles ohr.e Unterschied zurück, was der Menschengeist in unserer Zeit geschaffen hat, ist eine nichtige und unbegründete Verleumdung... Was ... durch Forscherarbeit an Wahrheit errungen wird, das anerkennt die Kirche als Spur des göttlichen Geistes, weil ja alles Wahre notwendigerweise von Gott ausgeht... da ferner jeder Fortschritt in der Erforschung der Wahrheit uns anspornt, Gott selbst zu erkennen oder zu loben: deshalb wird die Kirche alles, was irgendwie beiträgt zur Erweiterung unseres Wissens, stets mit Beifall und mit Freuden aufnehmen. Und wie die anderen. Zweige der Wissenschaft, so wird sie auch jene begünstigen und fördern, deren Zweck die Erforschung der Natur ist. Findet der Verstand bei diesen Studien etwas Neues, so hat die Kirche nichts dagegen. Sie verhindert nicht die Forschungen, welche die Verfeinerung und Bequemlichkeit des Lebens zum Ziele haben. Und da sie Trägheit und Faulheit haßt, drängt sie sehr darauf, daß der Menschengeist durch Übung und Pflege reiche Früchte trägt.“ Die Kirche handelt so, in der Überzeugung, „ . .. die beste Mutter und Schimerin der Freiheit unter den Menschen ist die Wahrheit: Die Wahrheit wird euch frei machen“ (Immortale Dei, 1. XI. 1885J.

Leo XIII. öffnet 1883 der Geschichtsforschung die vatikanischen Archive. Das ist ein Akt von symbolischer Bedeutung. Dieser Papst hat weder vor der Vergangenheit noch vor der Gegenwart und Zukunft, vor beider großen positiven und negativen Möglichkeiten Angst. Entschlossen greift er heißes Eisen an: die Arbeiterfrage und die Sozialpolitik in seinem geschichtsmächtigsten Rundschreiben Rerum novarum vom 15. Mai 1891 in Front gegen Liberalismus und Sozialismus; nicht minder brennend war — am Beispiel Frankreichs — die Versöhnung der Katholiken mit der Republik, mit der laizistischen Demokratie. Gegen schwerste innerkatholische Widerstände setzt er in Frankreich das Ralliement durch; wenn wir heute die große französische Dichtung und Theologie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kennen und bewundern dürfen, sollten wir nicht vergessen, daß sie auf eben dieser Basis ruht, seit Peguy, Bernanos bis zu Danielou und Congar: auf der Versöhnung der französischen Katholiken mit der Neuzeit und ihrer politischen Gesellschaft, durch Leo XIII. — Leo XIII. ist der erste moderne Missionspapst. Afrika und Asien stehen ihm so nahe' wie die Versöhnung mit den Slawen und die Bemühung um d'e Ostkirche. So ist es keine Phrase, sondern geschichtliche Wirklichkeit: mit Leo XIII. schreitet die römische Kirche über die Schwelle der Neuzeit.

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