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Tschernobyl der Seelen
Eine neue Sozialenzyklika ist da - das neunte Rundschreiben von Papst Johannes Paul II. „Centesimus Annus" gilt der Erinnerung an die Enzyklika „Rerum novarum", mit der Leo XIII. vor 100 Jahren die kirchliche Welt wachrüttelte. Zentrale Botschaft heute: „Kein Mensch kann behaupten, für das Schicksal seines Bruders nicht verantwortlich zu sein."
Dieser Satz ist seinem Wesen nach so alt wie das Alte Testament, die Hebräische Bibel: „Kain, wo ist dein Bruder Abel?". Und in der Tat kann man von der neuen Sozialenzyklika sagen, daß sie nichts wesentlich Neues enthalte. Der Aufruf an die Christen, an der Herbeiführung einer gerechteren Gesellschafts- und Weltordnung mitzuwirken, findet sich in jeder Sozialenzyklika seit „Rerum novarum". Was uns noch zuwenig auffällt: Immer wenigerhalten sich an das, was auf den ersten Blick so selbstverständlich erscheint.
Wir leben in einer Zeit des Rückzugs auf das eigene Ich. Gesellschaftliche Mitverantwortung wird uninteressant, Politik ist für viele schmutziges Geschäft. Aus richtig verstandener Selbstverwirklichung ist bei vielen krasser Egoismus geworden.
Besonders schlimm ist es damit in jenen Ländern, die der Kommunismus jahrzehntelang systematisch zerstört hat. „Tschernobyl der Seelen" nannte jüngst der Laibacher Erzbischof Alois Sustar diese „moralische Verwüstung", die jede soziale Aktivität und jede soziale Verantwortung getötet habe.
Mahnungen des kirchlichen Lehramtes in diese Richtung sind daher heute so aktuell wie vor hundert und wie vor tausend Jahren. Und tatsächlich ist ja auch die Soziale Frage so alt wie die Menschheit selbst und der Aufruf zeitgemäßer Religionen zu ihrer Lösung nicht erst ein Jahrhundert aktuell.
Nur Sklavenarbeit konnte die Kulturwunder des Altertums - Pyramiden und Tempel - hervorbringen. Herren und Hörige, Freie und Leibeigene prägten das ungerechte Gesellschaftssystem des Mittelalters. Als das Massenelend des ungezügelten Kapitalismus sich auszubreiten begann, erhoben christliche Sozialtheoretiker, Theologen und Politiker ihre Stimme dagegen - lang vor Karl Marx. Viele Sozialgesetze bestanden längst, als Victor Adler zu kämpfen begann. Das ändert nichts an der Tatsache, daß die Kirche als ganzes zuwenig tat, um das Elend in die Schranken zu weisen.
Wenn der Papst es nun - vor allem mit Blickrichtung Osteuropa und Dritte Welt - neuerlich getan hat, tut er es aber in dem Bewußtsein, daß die Geschichte der jüngsten hundert Jahre der Kirche rechtgegeben hat: nicht der rohe Manchester-Kapitalismus und nicht der barbarische Kommunismus haben sich durchgesetzt, sondern die Reformphilosophie der christlichen Sozialethik.
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