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80 Jahre „Rerum novarum”

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Von den zahlreichen päpstlichen Enzykliken kommt keine der von Leo XIII. vor 80 Jahren (15. Mai 1891) erlassenen Enzyklika „Rerum novarum” an Bedeutung gleich. Mit ihr hat die Kirche zum ersten Mal ein Gebiet betreten, das sie bis dahin noch gar nicht entdeckt hatte: das soziale Gebiet, den Bereich der

— wie man damals zu sagen pflegte

— „sozialen Frage”. Im Bereich der Caritas hat die Kirche zu allen Zeiten Großes vollbracht. Das Liebes- gebot des Herrn drängte dazu, dem in Not befindlichen Nächsten Hilfe zu bringen. Man nahm sich nicht nur des einzelnen Hilfsbedürftigen an, sondern schuf auch Einrichtungen und Anstalten, um Hilfs- und Pflegebedürftige aufnehmen zu können und ihnen die benötigte

Hilfe und Pflege angedeihen zu lassen; noch in der heutigen Wohlfahrtspflege nahmen diese Einrichtungen und Anstalten und die in ihnen selbstlos dem Nächsten dienenden Kräfte einen bedeutenden Platz ein. Nicht erkannt aber hatte die Kirche, wieviel Not und Elend in gesellschaftlichen Zuständen, die man ändern konnte, ihre Ursachen hatten. Nicht oder jedenfalls nicht zureichend erkannt hatte die Kirche auch, daß viel menschliche Not in schlechterdings ungerechten Zuständen ihre Ursache hatte und daß den davon betroffenen Menschen deswegen ein Rechtsanspruch auf Änderung dieser Verhältnisse zustand, ein Rechtsanspruch auf Staatshilfe und ein Rechtsanspruch auf unbehinderte organisierte Selbsthilfe.

Damit ist schon der wesentliche Inhalt der Enzyklika „Rerum novarum” angedeutet. Dem gleichen Staat, der damals der Kirche recht feindselig gegenüberstand, erkennt Leo XIII. die Befugnis zu und schärft ihm zugleich die strenge Pflicht ein, von dieser Befugnis Gebrauch machend, seine Macht und seine Mittel zugunsten der Ausgebeuteten und Notleidenden nachdrücklich einzusetzen. Und während Vereinigungen all derer, die nicht der gesellschaftlichen Oberschicht angehörten, das sind vor allem die Arbeiter, in vielen Ländern schlechterdings verboten, in anderen außerordentlich eingeschränkt und erschwert waren und Schikanen aller Art unterlagen, proklamiert Leo XIII. die Freiheit der Arbeitnehmer, sich zu Selbst hilfeorganisationen zusammen zuschließen, als ein naturgegebenes Recht, das keine Staatsgewalt ihnen entziehen könne.

Heute sind Staatsintervention und Koalitionsfreiheit für uns längst Selbstverständlichkeiten geworden. Wir vergessen jedoch oft, daß in großen Teilen der Welt dms, was Leo XIII. 1891 forderte und seit 1919 in der Satzung der IAO (Internationale Arbeitsorganisation) steht, immer noch der Verwirklichung harrt — leider auch in einer Reihe von Ländern, die als „katholische Länder” gelten und Wert darauf legen, als solche gezählt zu werden. Bei uns spielen die Ausführungen der Enzyklika „Rerum novarum” zur Eigentumsfrage immer noch eine gewisse, und zwar unerfreuliche Rolle. Der Sozialismus (wir würden heute sagen: der Kommunismus) zur Zeit Leos XIII. verfocht die Abschaffung des (Privat-) Eigentums, wie sie in der Sowjetunion und dem von ihr beherrschten Block sowie in Rotchina durchgeführt worden ist: Alle Produktionsmittel sollten „vergesellschaftet” werden. Das ver anlaßt den Papst, sich für die Berechtigung und damit für Beibehaltung des privaten Eigentums einzusetzen. Nicht auf sich beruhen können die Fälschungen, die man von Anfang an — zu einem Teil wohl aus dem Unverstand, zum Teil aber doch wohl nicht ganz ohne Absicht — an der Enzyklika vorgenommen hat: Fälschlich hat man dem Papst eine „Heiligsprechung” des Eigentums unterschoben (jedermann weiß, daß sie einen anderen Urheber hat!); fälschlich hat man seine Verteidigung der Institution des Eigentums umgedeutet in eine Sanktionierung der bestehenden Verteilung des Eigentums, um sie auf diese Weise als unantastbar hinzustellen (der Papst fordert „Eigentum für alle!”); fälschlich wurde in die Enzyklika hineingelegt, der Staat sei darauf beschränkt, soweit nötig, den „Gebrauch” zu regeln, den die Eigentümer von ihrem Eigentum machen, dagegen sei ihm nicht gestattet, die Eigentumsordnung zu gestalten. Vierzig Jahre später trat Papst Pius XI. in seiner Enzyklika „Quadragesimo anno” diesen Fehldeutungen entgegen.

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