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Die Frage des Lord Beveridge

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,,Meine liebe Nachkommenschaft… Ich möchte Gebrauch machen von der mir von der B. B. C. heute gegebenen Gelegenheit, Dir einen Brief zu schreiben, den sie Dir im Jaihre 2052 zuetellen wird. Ich möchte Dir einiges sagen über die Dinge, die nicht gefilmt werden können und die Dir sonst vielleicht entgehen könnten — was wir fühlten uftd dachten Im besonderen möchte ich Dir sagen, was es heißt, eine friedliche soziale Revolution zu durchleben. Unter sozialer Revolution verstehe ich den Wandel in der Besitzverteilung, die in Großbritannien erfolgt ist, und ihre Wirkung auf die Beziehungen dei menschkhen Wesen zueinander.

So leitet Lord Beveridge seinen Brief an die Nachkommenschaft ein, den er im Londoner Radio gesprochen hat und der im „Listener“ an leitender Stelle veröffentlicht wurde. Er führt dann aus, „daß die soziale Revolution Wirkungen nach zwei Richtungen zeitigte: eine gewaltige Einkommenserniedrigung durch Besteuerung im Gefolge der Kriege und ihrer Auswirkungen und eine Einkommenserhöhung mit der Folge der Abschaffung der Armut. Eß ist jetzt für niemanden mehr möglich, sich großen Besitzes zu erfreuen oder ihn an 6eine Kinder weiterzugeben . Der Brief Lord Beveridges ist wahrscheinlich von viel größerem Interesse für die Gegenwart als für die Generation nach hundert Jahren, für die er gedacht ist. Lord Beveridge ist einer der geistigen Väter des englischen Experiments des Sozialismus der Jahre 1945 bis 1951. Man muß sich vergegenwärtigen, mit welch ungeheuren Hoffnungen und Versprechungen das Experiment begonnen wurde und welche Bedeutung die sozialistischen Parteien des europäischen Kontinents dem englischen Experiment immer wieder beiqemessen haben.

Lassen wir Lord Beveridge selber über einige Erfolge urteilen. Was ihn selbst betrifft, so sagt er:

,Ith, der ich dies schreibe, bin ein alter Mann und nicht 60 sehr durch den Wechsel der Verhältnisse betroffen als viele andere. Aber, um die Lebensart, an die ich gewohnt war, aufrechtzuerhalten, muß ich Weiterarbeiten, um Geld zu verdienen, lange über das gewöhnliche Arbeitsalter hinaus… Die einzige ernstliche Sorge für ältere Leute wie ich ist die Furcht, daß wir zu lange leben, nachdem wir unsere Ersparnisse verbraucht haben und nichts mehr verdienen können.“

Jedermann wird empfinden, daß dies ein erstaunlicher Erfolg des sozialistischen Wohlfahrtsstaates ist. Dabei ist Lord Beveridge sicher ein verhältnismäßig wohlhabender Mann. Er scheint nicht viel Vertrauen zu setzen in die Altersrente, die jedem Engländer nach dem 65. Lebensjahr in Aussicht steht. Der tiefere wirtschaftliche Grund, warum auf die Ersparnisse kein Verlaß ist, sind die wiederholten Währungskrisen (1947, 1949, 1951), mit denen das Experiment des englischen Sozialismus belastet ist, wobei außer der dauernden allmählichen Entwertung des Pfunds noch eine offizielle Abwertung in Rechnung zu stellen ist.

Lord Beveridge sieht die Schwierigkeiten für die heutige junge Generation der bisher vermögenderen Klassen viel größer an als seine eigenen.

„Es war eine Gewohnheit“, sagt er, „und es ist immer noch ein Wunsch dieser Leute, das Leben ihrer Kinder bis zum Mannesund Frauenalter und darüber hinaus gesichert zu wi66en. Das ist jetzt sehr schwęr oder unmöglich. Ich kenne heute Jungverheiratete Leute mit Kindern, die, obwohl

6ie ein gutes Einkommen haben, sich klar darüber sind, daß sie, wenn sie ihien Kindern die Erziehung zuteil werden ließen, die sie wünschten, ihr ganzes Geld ausgegeben hätten für ihre Kinder und nichts übrig hätten für ihre alten Tage.

Auch das wird von allen Unvoreingenommenen als ein erstaunlicher Erfolg eines sozialistischen Wohlfahrtsstaates angesehen werden. Denn nichts ist für den Menschen natürlicher, als für die Zukunft vorzusorgen, und namentlich liegt den Eltern nichts mehr am Herzen, als für die Zukunft ihrer Kinder vorzusorgen. Leo XIII. hat in der Enzyklika „Rerum novarum“ von diesem natürlichen Trieb des Menschen auf die naturrechtliche Grundlage des Privateigentumsrechtes geschlossen. Aber Lord Beveridge findet in seinem bekannten Buch „Vollbeschäftigung in der freien Gesellschaft“, daß das Privateigentum kein ursprüngliches Freiheitsrecht des Menschen, sondern nur eine „wirtschaftliche Zweckeinrichtung“ darstellt, überraschend ist seine Begründung: Der größere Teil der englischen Gesellschaft habe nie Eigentum an den Produktionsmitteln besessen. Die Schaffung von Besitz für Besitzlose, die Leo XIII. so entscheidend erscheint füi die Sozialreform, ist für Lord Beveridge kein Ziel der Sozialreform. Die Logik seines Arguments ist mehr als fragwürdig. Denn mit gleichem Recht könnte man schließen, daß es kein kulturpolitisches Ziel der UNESCO sein könne, das Analphabetentum zu bekämpfen, da der größere Teil der Menschheit immer aus Analphabeten bestanden habe. Tatsächlich ist aber die Schaffung von Eigentum und die Eigentumsbeteiligung der Arbeiterschaft an den Industrieunternehmungen eines der großen Ziele wirklicher Sozialreform. Es ist nicht uninteressant, daß sich sogar die Labour Party kurz vor dem Sturz ihrer Regierung im vorigen Jahre zu Möglichkeiten der Gewinn- und Eigentumsbeteiligung der Arbeiterschaft durch Mr. G a i t s k e 11 bekannt hat, nachdem die Liberalen und Konservativen schon einige Zeit vorher mit einem Gewinn- und Eigentumsbeteiligungsprogramm hervorgetreten waren.

Noch eine zweite Feststellung in dem Brief Lord Beveridges muß der heutigen Generation mehr als der Generation in hundert Jahren zu denken geben. Denn wenn die von Lord Beveridge tatsächlich offengelassene Frage nicht wirklich gelöst wird, dann wird vielleicht die Generation in hundert Jahren überhaupt keine Möglichkeit mehr haben, seinen Brief zu lesen und sich zu der Frage zu äußern. Er sagt nämlich: Ein noch wichtigerer Wandel betreffe den Ursprung eines neuen politischen Führertums. Er weist darauf hin, daß die großen Häuser, die bisher für die verschiedenen Landbezirke die Führer gestellt hatten, mit dem Schwinden des Einkommens der reicheren Klassen für diese Funktion nicht mehr weiter in Frage konrnen. Er weist auchauf die bisherige kulturelle Bedeutung dieser Häuser für Wissenschaft und Kunst, Musik und andere geistige Bereiche hin und fragt dann: Woher wird das Führertum kommen in einer wirtschaftlich eingeebneten Gesellschaft? Wie können wir uns des echten Führertum versichern, um uns zu bewahren vor einer geistigen und künstlerischen Einebnung? Das sind vielleicht die interessantesten Probleme, denen wir heute gegenüberstehen

Wie er selbst eingesteht, weiß er darauf keine Antwort, sondern sagt:

.Woher in unserer klassenlosen Summe (collection) von Männern und Frauen das Führertum kommen 6oll, weiß ich nicht.

Dann berührt er die entscheidende Tatsache:

.Führertum allein i6t aber nicht genug: die Führung, die Hitler den Deutschen gab, führte nur zum Übel. Unser Führertum in England, soweit es gut war, war nicht einfach von persönlichen Qualitäten abhängig, sondern von der Tradition. Wir haben nun eine aristokratische Tradition in England weiterzuentwickeln, ohne die Aristokraten … Ihr (Lord Beveridge spricht die Generation im Jahre 2052 an) werdet die Antwort wissen.

Wenn man bedenkt, daß deTocque- v i 11 e, der bekannte Verfasser des berühmten Werkes „De la dėmocratie en Amerique“, vor fast genau hundert Jahren schon der modernen Demokratie die Diagnose in einem vielzitierten Brief an John Stuart Mill dahin gestellt hat, daß ihre Zukunft von der Führerfrage ab- hänge, so ist klar, daß Lord Beveridges Frage die Schicksalsfrage der heutigen Demokratie ist, auf die er aber keine Antwort zu geben vermag. Sein Hinweis auf Hitler gibt der Schicksalsfrage nur noch einen um so düstereren Akzent.“ In der reinen Massendemokratie, „auf die Lord Beveridge als auf „klassenlose Summe von Männern und Frauen“ hinweist, sind zwangsläufig die Werte der Masse beherrschend und der Führer, der mit dem geringsten V erantwortungsbewußtsein nur auf die Werte der Masse spekuliert, das heißt der Demagoge, wird seine Chancen kommen sehen. Auf die Lebensfrage der heutigen westlichen Demokratie im sozialistischen Wohlfahrtsstaat weiß Lord Beveridge keine Antwort.

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