Im Land der "Tabloids"

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Die britischen Boulevardzeitungen wie "The Sun" oder "Daily Mirror" sind berüchtigt für ihren rabiaten Journalismus. Wie wird jenseits des Ärmelkanals journalistische Qualitätskontrolle versucht?

Nichts hat das Ansehen der Okkupationsmächte im Irak mehr erschüttert als die Bilder von grausamen Folterungen und schweren Misshandlungen durch amerikanische und britische Soldaten. Auf die Ausstrahlung der ersten schockierenden Aufnahmen über die Verbrechen von US-Soldaten im berüchtigten Bagdader Abu Ghraib-Gefängnis reagierte man in Großbritannien noch mit kollektivem Schulterklopfen: "Unsere Burschen würden so etwas nie tun", lautete der Tenor der Presse nach den Enthüllungen Ende April.

Der Fall "Daily Mirror"

Doch eine Zeitung hielt sich bereits auffällig zurück. In streng geheimen Sitzungen bereitete das Boulevardblatt Daily Mirror da schon sensationelle Enthüllungen vor. Am 1. Mai veröffentlichte die Zeitung dann Aufnahmen britischer Soldaten, die irakische Gefangene misshandeln. Ein Aufschrei ging durch das Land. Doch schnell wurden Zweifel an der Echtheit der Bilder laut. Der Mirror legte mit weiteren Aufnahmen nach und hielt an seinen Vorwürfen fest (vgl. Bild rechts).

Ungereimtheiten aber blieben. So war auf einem Bild ein Lastwagen einer Type zu erkennen, die nachweislich im Irak nicht zum Einsatz kam. Die Folterbilder wirkten merkwürdig klar und fast klinisch rein. Allzu sorgsam war der geringste Hinweis auf die Identität der mutmaßlichen Täter entfernt worden. Als Vertreter des beschuldigten Queen's Lancashire Regiment vor der Presse demonstrierten, wie die Waffenhaltung auf einem der Bilder offensichtlich gestellt war, war es um Daily Mirror-Chefredakteur Piers Morgan geschehen: Am Abend des 14. Mai teilten ihm die Zeitungsinhaber mit, dass er sich einen neuen Job suchen könne.

Die "Nachrufe" auf den erfolgreichen Blattmacher fielen erstaunlich freundlich aus. In vielen Konkurrenzblättern, die durch Morgans angebliche Enthüllungen schwer unter Druck geraten waren, überwog die Einschätzung, dass die Aufnahmen vermutlich nicht authentisch, aber wahrheitsgetreue Nachstellungen gewesen sein könnten. Die Vorwürfe gegen Morgan von Seiten seiner publizistischen Gegner fielen erstaunlich mild aus. Auch William Gore, Vizedirektor der Press Complaints Commission, gibt sich im Gespräch mit der Furche zurückhaltend: "Die Polizei untersucht die Sache noch, aber es scheint sich um eine Zeitungsente gehandelt zu haben. Vielmehr lässt sich dazu derzeit nicht sagen."

"Zeitungsente" scheint ein ziemlich mildes Wort für einen für Regierung und Armee beispiellosen Skandal, der das Ansehen der Streitkräfte ernsthaft - und längerfristig - in Mitleidenschaft gezogen und der politischen Führung ein neues Aufflammen des Streits um den Irak-Krieg gebracht hat. Gore aber sieht das etwas gelassener: "Aggressiver Journalismus ist ja nichts Schlechtes. Entscheidend ist es, die grundlegenden Standards von Genauigkeit und Korrektheit einzuhalten."

Britanniens Presserat

Genau darüber wacht die Press Complaints Commission, der britische Presserat. Die 1991 als Nachfolger des Press Council geschaffene Einrichtung kontrolliert alle Printmedien des Landes und agiert als "selbstregulierende Behörde", in der Pressevertreter und Repräsentanten anderer Berufe die Zunft kritisch beäugen und gegebenenfalls auch strafen. Gore hält das für eine ideale Konstruktion: "Eine Presseaufsicht ist notwendig, aber in einem demokratischen Staat muss sie regierungsunabhängig sein. Nur so kann die Freiheit der Presse sichergestellt werden."

Warum aber nicht eine Regelung durch Gesetze? "Manche halten das für eine bessere Lösung", räumt Gore ein. "Wir aber glauben, dass unser Weg der effizientere ist." Im Gegensatz zum oft kostspieligen Rechtsweg sei die Press Complaints Commission "schnell, gratis und fair". Von den rund 3.500 im Jahr eingehenden Beschwerden stamme die überwiegende Mehrheit von Privatpersonen, denen man rascher und unbürokratischer helfen könne als über langwierige Rechtsstreitigkeiten.

Allerdings funktioniert dieses System nur, wenn es von der Presse auch ernst genommen wird. Dass dem so ist, bestätigt Mark Milner, stellvertretender Chefredakteur des linksliberalen Guardian gegenüber der Furche: "Was die Press Complaints Commission sagt, das gilt. Dagegen gibt es keinen Widerspruch." Nach Angaben von Gore halten sich "98 Prozent" der britischen Printmedien sowohl an den von der Kommission herausgegebenen Verhaltenskodex als auch an eventuelle "Sanktionen".

Lahme Sanktionen

Diese sind freilich reichlich lahm. Mehr als eine Richtigstellung, eine Entgegnung oder eine Gegendarstellung kann die Kommission nicht erwirken. Da ist der mögliche Schaden jedoch längst passiert, ernst zu nehmende Kompensation kann ein Beschwerdeführer erst wieder nur am Rechtsweg erstreiten. Gore betont aber den hohen symbolischen Wert, den die Schmach einer Entgegnung für eine britische Zeitung habe. Im Gegensatz zu dem entschlafenen und der Öffentlichkeit praktisch unbekannt gebliebenen österreichischen Presserat ist das britische Pendant nämlich eine allgemein bekannte und anerkannte Einrichtung.

Ob sie mit den Auswüchsen des britischen Boulevards tatsächlich zurande kommt, muss dennoch fraglich bleiben. Es ist nicht nur die von Gore ausdrücklich verteidigte Aggressivität, die ins Auge sticht. Es ist auch die Fixierung auf Stars, Sex, Skandale, Sport und die beliebige Zuspitzung jedes wichtigen Themas ins Extrem. Nie wird von den Kleinformaten (Tabloids) einfach nur berichtet, immer wird zugleich Stimmung (und damit Politik) gemacht.

Ein Beispiel: Als Großbritannien zu Jahresbeginn mit mehrjähriger Verspätung plötzlich bemerkte, dass die EU-Erweiterung vor der Tür stand, setzte eine beispiellose Hetze gegen angeblich drohende gewaltige Einwanderungswellen ein. Herzzerreißende Reportagen in der Daily Mail, dem Zentralorgan des britischen Kleinbürgers, warnten ab Februar vor angeblich 200.000 slowakischen Roma, die bereits mit gepackten Koffern auf die Einreise auf die heiligen Inseln Albions ab 1. Mai warteten. Da konnte der Rest nicht nachstehen, bald fand sich dieselbe Geschichte in verschiedensten Variationen in den meisten anderen Blättern. Nur die Roma sind bis heute nicht gekommen.

Dieses Verhalten ist auch Ausdruck des Konkurrenzkampfs in einer krisengeschüttelten Branche. Selbst der unumstrittene Marktführer The Sun aus dem Hause Rupert Murdoch mit einer täglichen verkauften Auflage von 3,4 Millionen Exemplaren - ein Blatt, neben dem die deutsche Bild-Zeitung wie ein Pfarrblatt erscheint - muss mit Marktanteilsverlusten kämpfen. Konkurrenten wie Daily Mirror, Daily Mail oder Daily Star geht es nicht besser.

Kampf der Qualitätsblätter

Noch viel schlechter steht es um die meisten Qualitätszeitungen (Broadsheets). Der notorisch verlustbringende Independent stellte im vergangenen Herbst zwar mit einigem Erfolg auf Kleinformat um, schreibt aber weiter rote Zahlen. Weniger geglückt verlief das gleiche Experiment bei der konservativen Times, die im Jahr zweistellige Millionenverluste macht. Und um den noch konservativeren Daily Telegraph - mit knapp 900.000 verkaufter Auflage die mit Abstand größte (und gewinnbringende) Qualitätszeitung - tobt eine heftige Übernahmeschlacht. Gore aber bleibt optimistisch: "Wir sind das Heimatland der freien Presse, und wir werden es bleiben."

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