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Todeskampf der Riesen am Boulevard

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Für österreichische Betrachter ist es schwer begreiflich, daß eine Zeitung eingestellt wird, weil sie „nur“ eine Auflage von einer Million hat und nicht lebensfähig ist. Aber die Zeitungsverhältnisse in England unterscheiden sich radikal von dem, was am europäischen Festland gang und gäbe ist, so daß der an sich nicht allzu aufregende Anlaß, daß wieder eine Londoner Tageszeitung — diesmal eine von keineswegs hervorragender Qualität — verschwindet, dazu verleitet, einmal intensiv über das Problem nachzudenken.

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Für österreichische Betrachter ist es schwer begreiflich, daß eine Zeitung eingestellt wird, weil sie „nur“ eine Auflage von einer Million hat und nicht lebensfähig ist. Aber die Zeitungsverhältnisse in England unterscheiden sich radikal von dem, was am europäischen Festland gang und gäbe ist, so daß der an sich nicht allzu aufregende Anlaß, daß wieder eine Londoner Tageszeitung — diesmal eine von keineswegs hervorragender Qualität — verschwindet, dazu verleitet, einmal intensiv über das Problem nachzudenken.

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In England unterscheidet man zwischen den sogenannten „nationalen“, nämlich im ganzen Staat gelesenen Zeitungen, und den lokalen, sowie zwischen der Qualitäts- und der Massenpresse. Seit der „Guardian“ in London erscheint und die Ausgabe in Manchester zweitrangige Bedeutung hat, kommen alle „nationalen“ Morgenblätter in London heraus und führen miteinander einen erbitterten Konkurrenzkampf, der für den Zeitungsleser sowohl günstige wie ungünstige Auswirkungen hat. Zu den günstigen gehört, daß die Notwendigkeit, konkurrieren zu können, die Qualität des Nachrichtendienstes vorteilhaft beeinflußt und daß die Zeitungen verhältnismäßig billig sein müssen. Die ungünstigen Folgen sind, daß eine Zeitung nach der anderen auf der Strecke bleibt und das Bild des Londoner Zeitungswesens an Reichhaltigkeit verliert. Schon lange vor dem zweiten Weltkrieg sind Blätter mit jahrzehntelanger Tradition unter der Verkleidung der Verschmelzung mit anderen verschwunden, wie die erzkonservative „Morning Post“, die im „Daily Telegraph“ aufgegangen ist. Das den Zeitgenossen noch erinnerliche Beispiel des Untergangs einer Zeitung ist der Fall des liberalen „News Chronicle“ mit dem Abendblatt „Star“. Der „News Chronicle“ (selbst eine Zusammenlegung von „Daily News“ und „Daily Chronicle“) hielt eine mittlere Linie zwischen den ernsten und den Massenzeitungen und befleißigte sich einer europäisch-fortschrittlichen Haltung. Das Blatt war von der Schokoladeflrma Cadlbury finanziert, deren Inhaber an der humanitären Arbeit der Quäiker positiven Anteil nahmen. Als eines Tages im Jahre 1960 die Vorbereitung der Zeitung für den nächsten Tag in vollem Gang war, wurden Redaktion und Druckerei verständigt, sie sollten die Arbeit einstellen, denn das Blatt würde nicht mehr erscheinen. Die Abonnenten bekamen am nächsten Tag das ganz konservativ eingestellte Massenblatt „Daily Mail“ ins Haus zugestellt, das eine Auflage von etwas über einer Million hatte — man hatte mit dem Blatt die Leser mit- veikauft. Im Augenblick schien das für die „Daily Mail“ ein Rettungsanker zu sein, aber die an andere Kost gewöhnten Leser verflüchtigen sich bald.

Der „Daily Herald“

Besonders tragisch ist das Schicksal der Zeitungen, die gegründet worden waren, um’ die Politik der Labour Party zu propagieren. Der ..Daily Herald“, eine Gründung des Gewerkschaftsbundes, war ursprünglich eine rein politische Zeitung und hatte daher seinen Leserkreis nur unter politisch interessierten Menschen- Es war der Einfall Emest Bevins am Ende der zwanziger Jahre, dem Blatt durch Injektion von nicht rein politischem Material eine breitere Basis und größere Durchschlagskraft zu schaffen. Der Gewerihschaftsbund behielt 51 Prozent der Aktien und die Bestimmung der politischen Linie, 49 Prozent übernahm ein privater Verlag, dem die Druckerei gehörte, in der das Blatt helgestellt wurde. Das war anfangs ein großer Erfolg, die Auflage des „Daily Herald“ stieg auf über zwei Millionen, die Labour Party hatte ein lebhaft gestaltetes, aber trotzdem auch unpolitische Interessenten ansprechendes Organ, in dem ihre Auffassungen in wirkungsvollster Weise vertreten wa ren. Als nach dem Krieg das politische Interesse wieder abnahm, drückte sich das in einem Rückgang der Auflage des „Daily Herald“ aus, dem man mit Konzessionen an die unpolitischen Leser entgegentreten wollte. Bald nahm in dem Blatt die Politik einen geringeren Raum ein als die Scheidungsaffären von Filmstars, aber mit der Konkurrenz, die ö.eses Gebiet weit besser zu bearbeiten in der Lage war, konnte es der „Daily Herald“ nicht erfolgreich aufnehmen. Schließlich mußte der Gewerkschaftsbund schweren Herzens dem Wunsch des Verlags entsprechen, ihm das Blatt ganz zu überlassen, “nd ‘-•’gen das vage Versprechen einer weiteren Unterstützung der Labour-Politik seinen parteipolitischen Charakter vollkommen aufgeben, fl’ auch danach die Auflage immer weiter fiel und das Blatt ein großes Defizit hatte, machte der finanzkräftige Verlag, der eine große Zahl von Zeitschriften und Büchern herausbringt, ein radikales Ende: er ersetzte den „Daily Herald“ durch ein neues Blatt mit dem für eine Tageszeitung etwas ungewöhnlichen Namen „Sun“, das ein Massenhlatt mit Niveau sein sollte. Auch dieser Versuch mißlang, der Verlag verlor Millionenbeträge, die er in das Blatt investiert hatte, und schließlich wurde es an einen kapitalkräftigen australischen Journalisten verkauft, der den Ehrgeiz hat, mit seinem Geld ein Londoner Zeitungsmagnat zu werden. Er hatte sich vorher bereits in -den Besitz einer geschwätzigen Sonntagszeitung mit einer Auflage von fünf Millionen gesetzt. Als er die „Sun“ erwailb, stellte er sie auf ein „Tabloid“ um, das heißt, ein durch Format und Aufmachung (halbe Größe und reich bebildert) volkstümliches Blatt, „volkstümlich“ allerdings im Sinne von primitiv. Es wurde ein großer Erfolg, die Auflage stieg von 1,4 auf beinahe zwei Millionen, und die „Sun“ bedroht nicht nur die Auflagenhöhe der Konkurrenten, sondern es ist ihr schon gelungen, einen von ihnen, den „Daily Sketch“, umlbringen zu helfen. Nach dem Verlust des „Daily Herald“ hatte die Labour Party immer noch die journalistische Schützenhilfe der Sonntagszeitung „Reynolds News“, die vom Genossenschaftsbund finanziert war; auch hier versuchte man durch Konzessionen an den vermeintlichen Lesergeschmack dem Abonnentenrückgang entgegenzuwirken, aber auch diese Maßnahme zusammen mit der Umbenennung auf „Sunday Citizen“ und der Umwandlung des Blattes in ein „Talbioid“ nützten nichts: eine englische Sonntagszeitung mit nur 400.000 Auflage ist nicht lebensfähig. Damit war dieses Kapitel 1967 negativ zu Ende gegangen.

Rettung der „Times“

Die „LebensUnfähigkeit“ von Zeitungen mit einer Auflage von weniger als 1,5 Millionen wird nicht nur von den geradezu astronomischen Herstellungskosten bestimmt, sondern auch von der Tatsache, daß Blätter mit einer geringeren Auflage nicht die großen Inseratenaufträge bekommen, die allein den verhältnismäßig niedrigen Verkaufspreis ermöglichen. Hier gilbt es aber Ausnahmen: dieses „Gesetz“ bezieht sich nicht auf die Qualitätsblätter „Times“, „Guardian“, „Daily Telegraph“ und „Financial Times“, die ihrer gesamtstaatlichen Bedeutung wegen trotzdem die großen Inserate bekommen.

Die Londoner kommunistische Tageszeitung „Moming Star“ ist keine Zeitung im üblichen Sinn des Wortes, sondern eine reine Propa- gandapuhlikation, deren kümmerliche Auflage von 50.000 nur durch 10.000 Zwangsabonnements in den kommunistisch regierten Ländern Europas aufrechterh alten wird.

Sogar die Ende des 18. Jahrhunderts gegründete „Times“, das repräsentativste .und weltbekannte Londoner Blatt, ist heute nicht nur in ihrer Existenz bedroht, sondern wäre schon längst eingestellt worden, hätte nicht der kanadische Pressemagnat Lord Thomson das Blatt vor einigen Jahren erworben und seinem Zeitungs- und Zeitschriften- königreich einverleilbt, zu dem in allen Teilen der Welt zahlreiche prosperierende Organe gehören. Hätte Lord Thomson, der bereits 75 Jahre alt ist, nicht den Ehrgeiz, mit der „Times“ identifiziert zu werden, würde es ihm nicht einfallen, das alljährliche Millionendefizit der Zeitung aus den Überschüssen seines Konzerns zu decken. (Ob es sein Sohn und voraussichtlicher Nachfolger auch machen wird, ist die Frage.) So hat er aber sogar» neue Millionen in das Blatt investiert, um es zu modernisieren. Damit hat er insofern einen gewissen Erfolg erzielt, als sich die Auflage von etwa 280.000 auf über 400.000 erhöht hat. Damit nähert er sich dem selbst gesteckten Ziel, eine Auflagenhöhe von einer halben Million zu erreichen. Er verweist ‘mit Stolz darauf, daß der Zuwachs an Lesern sich meist aus jüngeren Jahrgängen rekrutiert. Aber die Erfolgskampagne ist nicht ohne für das Niveau der „Times“ recht bedenkliche Konzessionen an den Publikumsgeschmack vor sich gegangen: reißerische Überschriften, Breittreten von Skandalaffären, die die „Times“ früher mit wenigen Zeilen abgetan hätte, ganzseitigen grellen Farbinseraten. Neuerdings gab es sogar — wenn auch nur schwarz- weiß — ein ganzseitiges Inserat, das einen scharf konturierten Mädchenakt in Seitenansicht zeigt, etwas, das noch vor kurzer Zeit in diesem Blatt undenkbar gewesen wäre. Früher konnte durch einen Leitartikel der „Times“ ein Minister oder vielleicht auch ein Regierungschef gestürzt werden — diese Zeiten sind vorbei. Die Leitartikel klingen schon nicht mehr so, als wären sie auf den Höhen des Olymp geschrieben, aber das Blatt hat nach wie vor seine große innen- und außenpolitische Bedeutung, jenseits aller Erörterungen darüber, ob und inwieweit in einer Demokratie niemandem verantwortliche Persönlichkeiten das Recht haben sollen — nur weil sie über die materiellen Möglichkeiten verfügen, eine Zeitung zu drucken —, meinungsbildend wirken zu dürfen.

Auch der „Guardian“, der in den letzten Jahren seinen Leserkreis sehr verstärken kannte und in einer Auflage von mehr als 300.000 erscheint, war schon in seiner Existenz bedroht und wird eigentlich nur dadurch über Wasser gehalten, daß ein im gleichen Verlag erscheinendes und für weniger anspruchsvolle Leser bestimmtes Abendblatt in Manchester hoch aktiv ist. Der „Guardian“ ist vorwiegend das Blatt der Intellektuellen und in Inhalt und Gesinnung geradezu das Vorbild einer politisch und menschlich sauberen Zeitung; liberal in seiner Grundhaltung, unterstützt er im allgemeinen die Labour Party und hat zu den wichtigsten journalistischen Anwälten der Regierung Harold Wilson gehört. Das Blatt existiert seit 5. Mai 1821. Zu dem Festessen aus Anlaß des 150jährigen Bestands am 5. Mai 1971 hat der „Guardian“ Willy Brandt als wichtigsten Gast und Redner eingeladen. Brandt hat angenommen.

Presse und Labour Party

Die Tatsache, daß in Großbritannien etwa die Hälfte der Bevölkerung den Parolen der Labour Party folgt, macht es fast unmöglich, eine ausgesprochen antisozialistische Zeitung herauszubringen und zu halten. Auch die Blätter, die man als konservativ in ihrer Grundhaltung bezeichnen kann, sehen sich oft gezwungen, den Auffassungen der Sozialisten Raum zu geben, und sei es auch nur aus ökonomischer Einsicht. Den klassischen Fall stellte durch etwa zwei Jahrzehnte das erzkonservative Abendblatt „Evening Standard“ dar, dessen Konzessionen an Hitler predigende Leitartikel auf der gleichen Seite durch Karikaturen des genialen Zeichners David Low, eines überzeugten Sozialisten, verhöhnt wurden. Das gilt für den Machtbereich von drei Zeitungslords: das Imperium von Lord Camrose („Daily Telegraph“ und „Sunday Telegraph“), den Konzern des verstorbenen Lord Beaverbrook, der jetzt von seinem Sohn geführt wird („Daily Express“, „Evening Standard“), und das Reich von Lord Rothermere („Daily Mail“, „Daily Sketch“ und „Evening News“).

Die gleichen ökonomischen Erwägungen haben den „Daily-Mir- ror“-Konzem, in dem der „Daily Mirror“ und der „Sunday Mirror“ erscheinen, zu den entgegengesetzten Schlußfolgerungen geführt; es handelt sich um Blätter, die meist Arbeiter und „kleine Leute“ als Leser haben und, um sie festzuhalten, sich im großen und ganzen als freiwilliges Organ der Labour Party gebärden. In der entschiedenen Befürwortung eines britischen Eintritts in den Gemeinsamen Markt haben diese Blätter viel dazu getan, insulare Vorurteile innerhalb der britischen Bevölkerung abzubauen. Das Gegenstück dazu bildet der „Daily Express“, der mit der gegenwärtigen konservativen Regierung durch dick und dünn geht, aber alle insularen Vorurteile gegen eine Bindung an das europäische Festland mit oft geradezu an den Haaren herbeigezogenen Argumenten zu festigen bemüht ist.

Zwischen diesen Zeitungen, die Auflagen bis zu vier und fünf Millionen täglich haben, tobt — wie schon gesagt — ein erbitterter Kampf, der die Blätter daran hindert, gar zu offen parteipolitisch Farbe zu bekennen. In diesem Kampf gibt es manches Auf und Ab. So hat der „Daily Express“ im Augenblick von seiner traditionellen Fünfmillionenauflage einiges eingebüßt und verkauft nur wenig über drei Millionen Exemplare täglich. Aber es kommt auch zu Katastrophen, die zur Einstellung von Zeitungen führen. Die Blätter des Rothermere-Konzems sind schon seit langem in finanziellen Schwierigkeiten, und die Konsequenz ist, daß man jetzt den als Tabloid erscheinenden und eine Art konservatives Gegenstück zum „Daily Mirror“ bildenden „Daily Sketch“ einzustellen beschlossen hat. Das ist insofern unlogisch, als die Verluste des „Daily Sketch“ (250.000 Pfund im Jahre 1970) geringer sind als die der „Daily Mail“ (über 800.000 Pfund), die vorläufig am Leben bleibt, auch wenn das Damoklesschwert weiter über ihr hängt. Auch in diesem Fall handelt es sich der Form nach nicht um eine vollkommene Einstellung, sondern um eine angebliche Zusammenlegung von „Daily Mail“ und „Daily Sketch“, was praktisch nichts anderes bedeuten kann als eine weitere Senkung des ohnehin nicht allzu hohen Niveaus der „Daily Mail“. Jedenfalls sind hunderte Journalisten und andere Angestellte und Arbeiter der Betriebe beider Zeitungen gekündigt worden und haben unter den gegenwärtigen wirtschaftlichen Verhältnissen kaum Aussicht, in ihrem Fach anderswo unterzukommen.

Das Zeitungssterben in London wird wohl weitengehen, und unter diesen Umständen besteht kaum Hoffnung darauf, eine empfindliche Lücke in der britischen Journalistik zu füllen, die durch das Fehlen eines Blattes gekennzeichnet ist, das die Aufgabe hätte, das Sprachrohr der Labour Party zu sein.

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