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Gespenst der 114 Tage

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Für mehr als hundert Tage war New York ohne die gewohnten Zeitungen. Die New Yorker Organisation der Schriftsetzer trat bei vier der führenden Zeitungen am 8. Dezember 1962 fei Streik. Andere Gewerkschaften des Zeitungsgewerbes schlössen sich an, und — die Verlegervereinigung nahm den Fehdehandschuh auf und veran-laßte fünf weitere Zeitungen, ihren Betrieb von sich aus zu schließen: New York versank in publizistische Verdunklung ... Nun war das praktisch nur halb so schlimm: auswärtige Zeitungen erschienen an den Zeitungsständen; die nicht bestreikten fremdsprachigen Blätter fügten ihren Ausgaben englische Beilagen ein, und schließlich brachten findige Leute Ersatzzeitungen mit neuen Titeln heraus (soweit man gewerkschaftlich organisierte Drucker außerhalb der Stadtgrenze zu gewinnen vermochte!). Vor allem aber brachten Rundfunk und Fernsehen ausführliche — zum Teil vorzügliche —, fast stündliche Sendungen über alle News, einschließlich Theater, Buchkritik, Mode, Film usw. Kommentatoren, die man bisher nur im Druck gekannt hatte, berichteten persönlich am Fernsehschirm oder analysierten bei den Radiostationen.

Eine Million Tagesverlust ,

Über den Zeitungsstreik selbst war idrei Monate lang die stereotype Meldung zu hören: Es besteht keine Hoffnung auf Einigung zwischen Verlegern und Gewerkschaften! Das Arbeitsministerium schaltete sich ein; besondere Vermittlungskomitees wurden offiziös und von den Bürgerorganisationen mit der Schlichtung beauftragt. Der Bürgermeister von New York City bot sich als Unparteiischer an; der Gouverneur des Staates New York tat desgleichen. Obwohl das Weiße Haus bis zuletzt die von manchen Seiten geforderte Anwendung des „Taft-Hartley-Gesetzes“ ablehnte, das die Exekutive bevollmächtigt, jeder „die Sicherheit oder die Wohlfahrt des Landes gefährdenden“ Streikbewegung eine Abkühlungsperiode von 60 Tagen im Arbeitskonflikt bei Rückkehr zur Arbeit aufzuerlegen, hat schließlich selbst Präsident Kennedy in einer unmißverständlichen Kritik am Verhalten der New Yorker Gewerkschaftsführer der wachsenden Ungeduld der Nation über die festgefrorene Streiksituation Ausdruck gegeben. Es schien aussichtslos: beide Vertragspartner blieben unnachgiebig. Kein Ende war abzusehen: neun Zeitungen blieben stumm. Die New York Times, die New York Harald Tribüne, die New York Post, der Mirror, die Daily News, das World Telegram, das Journal American und zwei Vororteblätter: die Long Island Preß und das Star Journal. 5,7 Millionen, am Sonntag 7,3 Millionen Exemplare der New Yorker Tageszeitungen wurden ein Vierteljahr lang nicht redigiert, gesetzt, gedruckt, verladen, an Postbezieher oder Zeitungsstände ausgeliefert: Tausende mußten Arbeitslosenunterstützung beziehen! Die Kassen der Streikgelder bezahlenden Gewerkschaften — besonders der kleineren, „sympathisierenden“, wurden leerer und leerer. Die Verleger kalkulierten die täglichen Verluste; die Geschäftswelt beklagte, wie es heißt, einen täglichen Verlust von zirka einer Million Dollar infolge des Ausfalls der Inserierungsmöglich-keiten (vor allem im Weihnachtsgeschäft!).

„ Streikbruch“

Nichts half: keine Seite gab nach.

Da erklärte plötzlich die Besitzerin der „New York Post“ ihren Austritt aus der Verlegerorganisation und die

Bereltschaft, zu verhandeln, und — begann wieder zu publizieren. Binnen wenigen Tagen hatte sie eine nie erahnte Auflage und eine Inserentenplantage, die sich sehen lassen konnte.

Das brach das Eis. Bürgermeister Wagner legte einen Kompromißvorschlag, geeignet, beiden Parteien Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, vor. Beide Seiten akzeptierten grundsätzlich das vorgeschlagene Schema und verlangten nur Ausbügelung von Einzelheiten.

Wenn dieser — naturgemäß verkürzte — Schlußbericht zum New Yorker Zeitungsstreik erscheint, werden die New Yorker wieder ihre alten, liebgewordenen Zeitungen lesen und von ihnen die ebenso altlieben Anweisungen erhalten, wie „man“ die Welt beurteilen sollte ...

Der Ausgang des Streiks kann in gewisser Hinsicht als „Sieg“ der Gewerkschaften verbucht werden, auch wenn kaum geleugnet wird, daß man nicht nur dem „Gegner“ und dem Publikum, sondern auch der eigenen Mitgliederschaft dafür nicht unbeträchtlich Opfer abverlangt hat: Man ichätzt den Verlust der Zeitungsindustrie an Einkünften und Löhnen zusammen auf zirka 100 Millionen Dollar, die der Geschäftswelt auf mindestens ebensoviel.

Einer — im Moment noch vorläufigen — Mitteilung aus Verlegerkreisen zufolge ist eine Lohnerhöhung von wöchentlich 12,50 Dollar, verteilt auf zwei Jahre vorgesehen; zweimal vier Dollar davon werden in Form einer direkten Lohnerhöhung ausbezahlt werden, die restlichen 4,50 Dollar werden Sozialleistungen zugefügt, eine Reduzierung der Arbeitszeit von 3 6 Vi Stunden auf 35 Stunden ermöglichend.

Obwohl es den Verlegern nicht unerhebliche Mehrkosten auferlegt, scheint das alles, selbst wenn man die für die UNIONS, besonders die „mitstreikenden“, wie etwa die Journalistenorganisation (Newspaper Guild), sehr wichtige Regelung, in Zukunft für alle im Zeitungsgewerbe vorhandenen Gewerkschaften das gleiche (parallele) Datum für eine Kontrakterneuerung einzuführen, einschließt, irgendwie nicht Grund genug für die Militanz, mit der 114 Tage hier ein Arbeitskampf durchgeführt wurde. Der wirkliche Hintergrund des Streiks ist auch kaum erwähnt worden: das Gespenst der Automation!

Kampf auf Leben und Tod

Die amerikanischen Schriftsetzer kämpfen für ihre Existenz! Wenn die Zeitungsbetriebe in größerem Ausmaß die bereits für Sport- und Wirtschaftsseiten teilweise benutzten Tonbandoder Photokopiemethoden ausbauen und nicht nur solches Material von „außen“ bekommen, sondern selbst automatische Setzmaschinen einführen, wird menschliche Arbeit immer mehr überflüssig und — wie in anderen Industrien — durch mechanische Arbeit ersetzt.

Man hat über diese Frage während des Streiks wenig in der Öffentlichkeit diskutiert. Bertram A. Powers, der New Yorker Führer der Typographen, hat einmal angedeutet, daß es sich, entgegen den Darstellungen der Verleger, bei dem Streik keineswegs nur um finanzielle Neuregelungen handelte, aber — anscheinend von höherer Stelle darum ersucht — darauf verzichtet, weiter darauf einzugehen.

Die Gewerkschaften sind an sich keineswegs gegen Automation. Was sie verlangen, ist: Garantien dafür, daß während der Übergangszeit zwischen dem Status quo und der Strukturänderung der Betriebe ein Moratorium gilt, das Entlassungen unmöglich macht und Umschulungszeiten für diejenigen erlaubt, die in den neuen Formen arbeiten sollen.

Die Typographen-Gewerkschaft hat für den Moment zugestimmt, daß für Aktien- und Wertpapiertabellen der Finanzseiten die Benutzung automatischer Maschinen zulässig ist. wenn keine Entlassungen deswegen erfolgen, mußte aber auf der anderen Seite zugestehen, daß durch Pensionierung freiwerdende Arbeitsplätze nicht neu besetzt werden. So schließt in der wichtigsten Frage der Streik mit „Unentschieden“. Daß damit nur die wirkliche Problematik hinausgeschoben wird, ist den Beteiligten klar, aber, niemand scheint eine endgültige Antwort vorwegnehmen zu wollen!

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