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Schüttelfrost der Schweizer Presse

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Was sich gegenwärtig in der deutschsprachigen Schweizer Presse abspielt, ist weitgehend unverständlich. Natürlich hat jeder, der davon etwas zu verstehen glaubt, eine Erklärung zur Hand, und am Biertisch steigt die Zahl der Interpretationen mit fortschreitender Abendstunde. Aber selbst die Soziologen, deren ureigenstes Fachgebiet dieSe Problematik eigentlich sein sollte, sind sich in der Diagnose nicht einig. Nur die akuten Symptome sind klar.

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Was sich gegenwärtig in der deutschsprachigen Schweizer Presse abspielt, ist weitgehend unverständlich. Natürlich hat jeder, der davon etwas zu verstehen glaubt, eine Erklärung zur Hand, und am Biertisch steigt die Zahl der Interpretationen mit fortschreitender Abendstunde. Aber selbst die Soziologen, deren ureigenstes Fachgebiet dieSe Problematik eigentlich sein sollte, sind sich in der Diagnose nicht einig. Nur die akuten Symptome sind klar.

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Vor etwa eineinhalb Jahren schoß in Zürich eine zweite Boulevardzeitung („Neue Presse“) aus dem Boden, zunächst als Mittagsblatt, doch mußte sie dann rasch auf den frühen Morgen umstellen, womit die Konkurrenz zur ersten Boulevardmorgenzeitung („Blick“) verschärft wurde. Die „Neue Presse“ überstand nun diesen Frühling nicht. Buchstäblich von einer Stunde auf die andere stellte sie ihr Erscheinen ein. Ebenfalls vor etwa eineinhalb Jahren wurde der Chefredakteur der „Weltwoche“, Dr. Rolf R. Bigler, von einer Stunde auf die andere an die Luft gesetzt. An seine Stelle trat Dr. August E. Hohler, der bis zu jenem Zeitpunkt Chef einer Planungsgruppe war, die sich mit einem Projekt einer neuen Zeitung (Arbeitstitel „Expreß“) beschäftigte. Schon durch die Übernahme Hohlers in die „Weltwoche“ wurde klar, daß der „Expreß“ eher eine Totgeburt war. Tatsächlich hat denn auch Ende des letzten Jahres der Verleger offiziell mitgeteilt, daß der „Expreß“-Plan fallen gelassen sei. Nicht genug damit: Praktisch zur gleichen Zeit, da die „Neue Presse“ einging, wurde Hohler als „Welt-woche“-Chef vor die Türe gesetzt und übernahm sein Vorgänger Bigler die ehemalige „Zürcher Woche“, die jetzt unter dem neuen Titel „Sonntags-Journal“ von einem Vierergremium, dem neben Bigler der Dramatiker Friedrich Dürrenmatt, der Historiker Professor Jean Rodolphe von Salis und der Publizist Markus Kutter angehören.

Was verbirgt sich hinter diesem unglaublichen Pressewirbel? Zunächst muß zwischen Dichtung und Wahrheit unterschieden werden. Objektiv festgestellt werden können die Veränderungen in den Besitzverhältnissen. Dies begann — wenn man schon so weit zurückgreifen will — damit, daß der Annoncen-Mann der „Weltwoche“ vor etwa zwei Jahrzehnten sich absetzte und als Konkurrenz die „Zürcher Woche“ herausbrachte. Der Titel war klar als Kampfansage an die „Weltwoche“ gedacht, erwies sich aber später als Bumerang, indem er das Blatt daran hinderte, wesentlich über den Raum Zürich hinauszustrahlen. Die zweite Veränderung ist auf etwa ein Jahrzehnt zurückzuführen, als verschiedene Verleger, darunter das große Verlagshaus Ringier und die Jean-Frey-AG, sich zusammenschlössen, um den „Blick“ herauszubringen. Bei diesem Unternehmen wirkten auch der „Wedtwoche“-Be-sitzer Pierre von Schumacher und der deutsche Verleger Kindler mit, die jedoch bald ausstiegen und so Ringier — auch gegenüber der Jean-Frey-AG — die Mehrheit verschafften.

Die „Weltwoche“ selbst war nach dem Tod von Pierre von Schumacher im Jahre 1964 in rätselhaftem Besitz. Einige Aktionäre, darunter die Witwe von Pierre von Schumacher, waren bekannt, doch wußten und weiß man nicht, ob nicht auch deutsche Verleger mitmischten. Auf alle Fälle wurde Dr. Rolf R. Bigler von einem Tag auf den anderen Chefredakteur und vertrieb seinen Vorgänger Michael Caro, der nach Kriegsende in Wien die britische „Weltpresse“ geleitet hatte. Bigler seinerseits wurde Ende 1967 „gefeuert“, als die „Weltwoche“ in den Besitz der beiden Verlagshäuser Ringier und Jean Frey überging, und Hohler — Biglers Nachfolger — kam unter die Räder, als es der JeanFrey-AG gelang, quasi als Revanche für das Vorgehen im Zusammenhang mit dem „Blick“, Ringier auszustechen und die absolute Mehrheit der „Weltwoche“-Aktien zu erringen. Die „Zürcher Woche“ selbst änderte die Besitzverhältnisse nie so radikal, dafür waren die Ausschläge ihrer redaktionellen Linie um so extremer, von links bis rechts und umgekehrt. Nun ist also dort Rolf R. Bigler eingestiegen und hat, wie er in seiner ersten Nummer ankündigte, offenbar aus seinen früheren Miseren die Konsequenzen gezogen. Er ist nicht nur Mitbesitzer, sondern auch Mitherausgeber und Chefredakteur, und die Verträge sind allem Anschein nach so konstruiert, daß auch ein Besitzwechsel ihn nicht mehr auf die Straße zu stellen vermöchte.

Bleibt noch das Rätsel „Neue Presse“. Deren Verleger geben ethische Motive an: Die Auflage, die um 40.000 herum lag, sei ohne Senkung des Niveaus nicht zu steigern gewesen, und — wie schön, wenn dies ein Verleger sagt — das Niveau habe man unter keinen Umständen sinken lassen wollen. Tatsache ist, daß der „Blick“ seinerzeit rund sechs Millionen Schweizer Franken fraß, bis er rentierte, daß aber die „Neue Presse“ in ihren 15 Monaten bereits mehr Geld verschlungen hatte, und daß sie immer noch nicht die rettenden Ufer in Sicht bekommen hatte. So also bleibt wohl eine einzige Feststellung: Niveau hin oder her, der Markt an Tageszeitungen ist weitgehend gesättigt!

Und zum Schluß muß . noch ein Aspekt angeführt werden, der nicht in Ziffern und Zahlen zu registrieren ist, der aber in der ganzen Pressediskussion maßgebend war. Es tauchte nämlich plötzlich das ominöse V.'ort von der „nicht mehr garantierten Redaktionsautonomie“ auf. Als vor wenigen Wochen ein großer Teil der „Weltwoche“-Redak-tion — zufällig in jenem Zeitpunkt, als Hohler gegangen wurde — demissionierte, warfen diese Journalisten dem Verleger und Besitzer Max Frey von der Jean-Frey-AG vor, sich ungebührlich in die redaktionellen Belange einzumischen. Aussage steht natürlich gegen Aussage.

Daß jetzt die Parteipresse mit Fingern auf die von ihr stets gehaßte unabhängige Presse zeigt, liegt auf der Hand, aber sie hat am allerwenigsten Grund zur Schadenfreude. Ihr Gelächter müßte pharisäerhaft tönen. In Wirklichkeit ist es nämlich ganz selbstverständlich, daß die sogenannte unabhängige Presse nach außen sichtbar anfälliger ist. Ihre Redaktionen sind heterogener zusammengesetzt, so daß schon redaktionsintern die Spannungen größer sein müssen. Der Verleger aber ist in den meisten Fällen ausschließlich an einer garantierten Rentabilität interessiert, so daß nochmals ein Spannungsmoment dazukommt. In der Parteipresse anderseits haben die führenden Redakteure und der Chefredakteur und der Verleger das gleiche Parteibuch in der Tasche, und da außerdem die Parteikasse für Unkosten aufzukommen hat, bleiben die Auseinandersetzungen „in der Familie“. Während in der unabhängigen Zeitung plötzlich der Verleger höchst persönlich aufkreuzt oder den Chefredakteur zu sich zitiert, entladen sich die Gewitter in der Parteizeitung etwa anläßlich einer Kommissionssitzung der Partei. Was denn nun ehrlicher ist, soll der Leser entscheiden.

Auf jeden Fall ist in der Schweiz der Zug der Leserschaft zur unabhängigen Presse recht bemerkenswert. Rundfunk und Fernsehen haben dazu zweifellos beigetragen, indem der Zuhörer und Zuschauer, der bisher brav und ausschließlich sein Parteiblatt las, über den Lautsprecher und den Bildschirm plötzlich mit anderen Ideen konfrontiert wurde. Von hier war der Schritt zum Abonnement einer „wilden“ Zeitung oder Zeitschrift nur noch ein kleiner.

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