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Der große Sexreigen

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Arthur Schnitzler schrieb 1900 seine Szenenfolge „Der Reigen“, die nach ebenso sensationellen wie skandalumwitterten Bühnenaufführun-gen 1920 angeklagt, zwar freigesprochen, aber vom Autor selbst für jede weitere Theaterinszenierung letztwillig zurückgezogen und auch nicht in die Gesamtausgabe seiner Werke aufgenommen wurde. Da diese testamentarische Verfügung offensichtlich zu umgehen war, erschienen bisher vier Verfilmungen dieses Rondos der Liebe: die erste wurde die beste, eine klassische Version, 1950 von Max Ophuls gedreht, eine Schnitzler-kon-' geniale ebenso charmant-delikate wie filmisch unsterbliche Tnanspo-nierung, geradezu ein „Modellfall“. 1963 schuf Alfred Weidenmann dann eine modernisierte Fassung, „Das große Liebesspiel“, und 1964 Roger Vadim ein neues französisches, aber unbedeutendes Remake.

Daß man in Deutschland nun der Meinung war, man müßte den berühmten Stoff noch einmal ins Kino bringen, hat eindeutige kommerzielle Spekulationen: in welchem anderen, geradezu schon „klassischen Stoff“,

durch den Namen eines großen Dichters gedeckt, kann man gleich zehn Liebepakte vor die Öffentlichkeit bringen? Und das heute, wo die Liberalisierung im Kino schon eindeutig-deutlichste Details geschmacklosester Art zuläßt! Otto Schenk in all seinem Naturalismus war der geeignete Mann, um sowohl für „literarische Werktreue“, Renommee auch als arrivierter Regisseur, aber auch für die nötige „eindeutige Deutlichkeit“ zu bürgen. Und des Letzteren entledigte er sich so bravourös, daß es selbst Voyeuren auf die Dauer zu langweilig werden dürfte, zehnmal in allen akribischen Details deftige Liebesakte miterleben zu müssen, das Ganze noch dazu nicht filmisch, sondern fernsehgemäß aufbereitet... Dazu eine total einfallslose, an „Love Story“-Schmalz erinnernde Überguß-musik, ein paar akzeptable und ein paar armselige Darstellerleistungen und eine monströs aufgezogene „Weltpremiere“ mit anschließendem Empfang im Rathaus — jedenfalls genug, daß die Prädikatisierungs-kammission ein „Besonders wertvoll“ vergeben mußte. Hat niemand

von all denen Ophuls unvergeßliches Meisterwerk gesehen?

*

Nach dieser langweiligen Entgleisung und traurig-peinlichen Enttäuschung zu einem anderen deutschen Film, der vielleicht ein Zehntel der „Reigen“-Herstellungskosfcen verbrauchte, dafür aber als einer der schönsten, poetischsten und erfreulichsten Werke aus der Bundesrepublik seit Jahren zu werten ist, Hark Böhms Regie-Erstling „Tschetan, der Indianerjunge“. Dieser ideale Fami-lienflkn, ohne Disneys kunsthandwerkliche Kitschanklänge auskommend, geradezu genial-unauffällig in bayrischer Berglandschaft gedreht und thematisch — die Verständigung zwischen Weiß und Rot schlicht und einfach, aber menschlich überzeugend — mehr als nur verdienstvoll, dazu noch großartig dargestellt und wunderschön filmisch photogra-phiert, würde mehr Zulauf und mehr Prädikate verdienen als der mißratene Sex-Reigen. Doch das Stille scheint bei uns unterzugehen — und wer ist schon Hark Böhm für eine Kommission nlmblinder, unsachverständiger, dafür rein weltanschaulich beeinflußter Kommissionsherren? Österreich besitzt keine Filmkultur, das wird immer wieder und wieder an ihren Vertretern demonstriert...

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