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Eine kleine Fabrik

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Vor 10, vor 15 Jahren sah sich der Zirkus vor allem in deutschsprachigen Landen durch die Konkurrenz des Kinos, vor allem aber des aufstrebenden Fernsehens, an den Rand des Ruins gedrängt. Viele Zirkusse suchten damals ihr Heil in der Assimilierung zirkusfremder Elemente, legten sich Wasserspiele und Girltruppen zu. Heute weiß man, daß damit auf das falsche Pferd gesetzt wurde. Denn das Publikum will im Zirkus sehen, was es dort immer gesehen hat: Tiere, Artisten, Clowns. Dies allerdings in immer neuen Variationen und neuen Steigerungsstufen der Vollkommenheit.

Der Zirkus ist heute eine wirtschaftlich konsolidierte, gesunde kulturelle Institution, die ihre Identität wiedergefunden hat. Allerdings herrscht eine sehr harte Konkurrenz, wobei in Deutschland und Österreich vor allem die Kleinen auf der Strecke blieben. Österreich hat heute noch zweieinhalb Zirkusse, zwei mittlere bis kleine, nämlich Saluti mit schätzungsweise 500 oder 600 Sitzplätzen und Belli mit einem nicht allzuviel größeren Zelt, ferner Rebernigg, der allerdings nur noch sporadisch in Erscheinung tritt, was vor allem auf persönliche Gründe zurückzuführen ist.

Allerdings hatten es gerade die Reberniggs nicht leicht, denn gerade ein Zirkus an der Grenze zwischen klein und groß, der gegen eine harte ausländische Konkurrenz anzukämpfen hat, selbst aber kaum ins Ausland ausweichen kann, gerät unweigerlich in die Kostenschere, wenn er vom Niveau seiner Programme keine Abstriche machen will. Österreichs Zirkusse genießen praktisch keine öffentliche Förderung, sie unterliegen dem vollen Umsatzsteuersatz von 5,5 Prozent, erst die Mehrwertsteuer sieht den halbierten Satz von 8 Prozent für sie vor. Aber schon wenige Prozente wirken sich bei einer „Kalkulation an der Kante“ unter Umständen existenzgefährdend aus. .

Große Zirkusse mit 4000 bis 6000 Plätzen sind, was Umsatz und Kosten, Anforderungen an das Management und Organisation betrifft, durchaus mit mittleren Industrieunternehmen vergleichbar. Bei den ganz Großen wie Krone kann man von stehenden Kosten in der Größenordnung von 150.000 bis 200.000 Schilling pro Tag — über das ganze Jahr — ausgehen, was einem Jahresbudget von bis zu 70 Millionen entspricht. Eine Nummer kleinere, etwa Sarrasani, rechnen mit fixen Tageskosten von 100.000 Schilling pro Jahr.

Daher muß pro Tag mindestens eine Vorstellung ausverkauft sein, und zwei halbvolle Vorstellungen sind schon zuwenig, zwei dreiviertel-volle das Minimum. Reist ein Zirkus etwa in zwei Tagen von Berlin nach Antwerpen, müssen die ausgefallenen Tageseinnahmen durch vermehrten Erfolg — mehrere Tage mit zwei ausverkauften Vorstellungen — hereingebracht werden. Gerät ein Zirkus in anhaltendes Schlechtwetter oder wird er gar, weil in einer Gegend eine Tierseuche ausgebrochen ist, interniert, muß er auf seinen Kapitalpolster zurückgreifen — hat er keine Reserven, ist er in der Krise.

Um nicht in die roten Zahlen zu gleiten, muß jede Vorstellungsserie intensiv vorbereitet werden: pressemäßig, werbemäßig, kostenintensiv. Tourneen werden Jahre vorher geplant. Längst kann es sich ein großer Zirkus nicht mehr leisten, die Zelte in aller Ruhe abzubrechen und anderswo aufzubauen. Von den 300 Menschen, die mit Sarrasani reisen, sind 30 nur mit dem Zeltbau beschäftigt, Masten, Anker sind doppelt vorhanden und werden am neuen Platz aufgerichtet, während der Zirkus noch am alten Platz spielt. Große Zirkusse benötigen zwei Sonderzüge, die oft wochenlang nicht aufgelöst werden können. Wie durchrationalisiert und eingespielt die Mannschaft eines großen Zirkus ist, illustriert die Rate der Personalfluktuation: Bei Sarrasani drei Prozent pro Jahr in der Stammannschaft.

Die Artisten wechseln. Sie sind selbstverantwortliche Unternehmer, ob sie nun Abendgagen von 2000 bis 3000 Schilling oder als echte Stars 30.000 bis 50.000 Schilling kassieren — allerdings immer als Mannschaft, nicht als. einzelner. Von der Abendgage muß die Mannschaft, die oft mit eigenem Wagen reist, oft auch ihren Unterhalt bestreiten, ihre oft sehr teuren Geräte anfertigen lassen, die Tiere unterhalten. Daher schreibt der Artist die Streuung des Risikos ganz groß. Viele Truppen treten mit zwei, ja manchmal mit drei Nummern in einem Programm auf, das hat auch für den Zirkus, der sie engagiert, organisatorische Vorteile. Eine berühmte Kunstreitertruppe arbeitet zum Beispiel im gleichen Programm unter anderem Namen als Musical Clowns. Ist eine Nummer nicht mehr gefragt, zieht vielleicht die andere: Risiköstreuung. Stürzt einer von ihnen ab und die Nummer ist geschmissen, kann man sich mit der anderen über Wasser halten: Risikostreuung.

Tot, und wohl nicht wieder auf-zuerwecken, wenigstens in unseren Breiten, ist der herrliche, romantische, Perfektion durch Intimität. Größe durch Atmosphäre aufwiegende „Pimperlzirkus“, mit Minizelt und zwei Wohnwagen. In echten Zirkusländern, vor allem in Italien, gedeiht er noch. Italien hat ein eigenes Zirkusgesetz — und 250 Zirkusse, von Riesen wie Moira Orfei bis herunter zum Kleinwagen-gezogenen Karren, wie man ihn aus „La Strada“ kennt. Ähnliches, nämlich eine starke, lebendige Zirkuskultur auf der Basis einer intensiven emotionellen Beziehung der Bevölkerung zum Zirkus, gilt für Spanien und mit Einschränkung Frankreich.

Deutschland hat noch etwa 20 Zirkusse, Österreich, wie erwähnt, zweieinhalb, und die meiden das lohnende, aber ebenso teure und schwierige Terrain Bundeshauptstadt. Dabei meinen Kenner dieser Branche, wie der ambitionierte Doktor Gerhard Eberstaller von der Gesellschaft der Zirkusfreunde, daß in Österreich durchaus noch Platz für zwei bis drei Zirkusse mit jeweils 500 bis 1500 Plätzen wäre.

Ganz anders liegen die Dinge in Osteuropa, wo der Zirkus intensiv staatlich gefördert wird. Der sowjetische Staatszirkus ist in Wirklichkeit kein Zirkus, sondern ein staatlicher Zirkuskonzern mit (Stand von

1965, heute sind die Zahlen höher) 53 stationären Zirkussen in festen Gebäuden, 14 Wanderzirkussen mit Zelten und 13 „Zoo-Zirkussen“. Die DDR kennt sogar private „Lizenzzirkusse“, Polen hat einen ortsfesten Zirkus in Warschau und zehn Wanderzirkusse. Dabei besteht ein starker Artistenaustausch einerseits zwischen der Sowjetunion und den anderen Ostblockländern, anderseits zwischen diesen und dem Westen. Die Oststaaten, nicht aber die Sowjetunion, engagieren westeuropäische Artisten und erlauben ihren eigenen Spitzenkräften, Engagements im Westen anzunehmen.

Die Institution Zirkus, die sich von Roms circenses herleitet, steht demnach nicht in Frage, und das ist nicht einmal erstaunlich, denn was einst ihren Hauptreiz ausmachte, die artistische Leistung, der Nervenkitzel, die Tiere, besteht weiter, wozu sich in einer Welt, die alles sieht, alles hört, alles liest, deren Sinne aber in einer Ära elektronischer Vermittlung zu kurz kommen, ein geradezu archaisches Element gesellt, dessen Attraktivität immer größer wird: Den Zirkus kann man auch greifen und vor allem riechen. Er repräsentiert Vergangenes, Verlorenes, und wie gut er sich — vor allem in der Kombination mit dem zeitgemäßen Streben nach Perfektion und Professionalität — verkauft, das ist ein Beweis dafür, wie sehr das, was er den Menschen gibt, den Menschen sonst fehlt.

Von einer wirtschaftlichen Krise des Zirkus kann daher heute keinesfalls gesprochen werden, wohl aber von einem Leistungszwang, der kleine Zirkusse in eine schwierige Lage bringt, denn je kleiner der Zirkus, desto geringer die Einnahmen — und die Möglichkeiten, sie durch bessere Darbietungen zu steigern. Fünf kleine Zirkusse können eine vorhandene Marktlücke für zwei mittlere Zirkusse nicht ausnützen. Das Publikum weiß, was es für sein Eintrittsgeld verlangen kann und zahlt lieber mehr für einen schlechten Platz in einem großen Zirkus als für einen Sitz in der ersten Reihe eines kleinen. Es ist anspruchsvoll geworden.

Denn, Postskriptum: In den Zirkus gehen längst nicht mehr nur die Kinder. Nicht einmal hauptsächlich. Die jungen Menschen haben ihn entdeckt.

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