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Fragment über den Zirkus

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Die Zeit des Zirkus ist vorbei, weil die Erwartung des Zuschauers eindeutig ist. Er weiß im vorhinein, wie die Handlung der Person in der Arena ausgehen soll. Daß dann die Handlung durch ein Mißgeschick nicht wie erwartet ausgeht oder doch verzögert wird, erlebt der Zuschauer nicht als Erhöhung der Spannung, sondern nur als peinlich. Er schämt sich geradezu, wenn der Saltoschlagende nicht auf den Schultern des Partners landet oder wenn der auf dem Seil Balancierende sich festhalten muß. Das Mißgeschick ruft in ihm keine Ungewißheit über den Ausgang der Handlung hervor, sondern Unbehagen, denn die Ungewißheit des Ausgangs ist nicht einge- pl’ant gewesen, der Ablauf der Vorgänge im Zirkus ist bis zum Ende festgesetzt. Das Mißgeschick geht dem Zuschauer zwar auf die Nerven, erhöht aber nicht die Spannung. Die Nervosität, die in ihm entsteht, ist nicht ein Zeichen der positiven Anteilnahme an einem Spiel, sondern ein Zeichen für den Wunsch, die Geschichte möge endlich vorbei sein. Die Spannung, die in ihm entsteht, wenn ein Körper frei oben im Zirkuszelt hängt, sich nur mit den Zehen an die Strickleiter klammernd, ist eine unangenehme Spannung. Es ist nicht die Spannung dessen, der unbewußt bei einem schönen Sturmlauf eines Fußballspiels das Nichtenden dieser Szene wünscht: der Zuschauer im Zirkus wünscht vielmehr ganz heftig das Ende dieser ihm unbehaglichen Spannung. Er weiß, daß das Spiel mit den Objek ten ernst werden kann, von einer Sekunde zur anderen. Sein Unbehagen entsteht aus dem Bewußtsein, daß das Spiel mit den Objekten im Zirkus so zugespitzt wird, daß jeder Fehlschläg je nach der Wirkung Schrecken oder Lächerlichkeit bewirkt. Die Absicht ist so unnatürlich, daß jede ungewollte Natürlichkeit die Spannung zerstört. Fällt dem Jongleur auch nur ein Ball von seinem Stab, so fällt auch die Spannung sofort zusammen, und man möchte wegschauen. Die Vorgänge im Zirkus sind unmenschlich, insofern als Handlungen vorgeführt werden, die dem Naiven menschenunmöglich scheinen. Sie sind sinnlos, zwecklos, stilisiert, jedem natürlichen menschlichen Handeln entfremdet. Sie sind künstlich, gemacht, ausgedacht. Im Zirkus ist all das nicht möglich, von dem man in der Umgangssprache sagt: „Das ist ja keine Kunst!“ und es dem anderen nachmacht. Es wird nur das vom Zuschauer hingenommen, was er selber und auch sein Nachbar nicht könnte. Um so peinlicher ist es, wenn es sich zeigt, daß es auch der in der Arena nicht kann. Die Handlung, die dem Zuschauer in ihrer Artistik unmenschlich vorge- kommen ist, wird durch das Mißgeschick auf beschämende Weise menschlich. Auch der Beifall, der den Artisten nach der gelungenen Handlung begrüßt, ist meist kein Beifall der Begeisterung, sondern der Erleichterung, daß nichts geschehen ist, daß der Körper den Kippunkt doch nicht erreicht hat, daß die aufgetürmten Bausteine doch stehen ge blieben sind, daß das heftige Zittern des allein stehenden Armes keine schlimmen Folgen gehabt hat, daß die Hände an dem in der Luft fliegenden Körper die anderen Hände ergriffen haben. Die Begeisterung kann nicht frei sein, weil vorher immer die Bereitschaft zur Scham oder zum Schrecken da war. Die Reaktion ist ähnlich unfrei wie die eines Zuschauers bei einem Fußballspiel, wenn ein Spieler der Angehörige des Zuschauers ist. Die Zuschauer sind gleichsam Angehörige des Artisten.

Die Zeit des Zirkus ist vorbei, weil der Zirkus, wenn er sich zu entwickeln versucht, sich in die falsche Richtung entwickelt. Es ist immer mehr zu beobachten, daß die Neigung zur bloßen Schau wächst. Der Zirkus führt einfach sein Eigentum vor, um zu beeindrucken. Er macht Gepränge. Er ziert die Tiere mit funkelndem Zierrat. Er bildet lebende Bilder, spielt mit Lichtwirkungen, zeigt ungefährliche Erotik. Dazu kommt noch, und das ist das schlimmste, daß die Tiere dazu dressiert werden, menschlich zu tun. Man bringt ihnen menschliche Bewegungen und Verhaltensweisen bei. Es ist nicht anzuschauen, wenn Elefanten sich Vorbeugen, Knickser machen, den Kopf schütteln. Bären werden zum Twisttanzen gebracht, Affen zu grüblerischen Posen, wie Rodins Denker. Die Tierwelt wird grotesk vermenschlicht, ja man bringt sogar schon Ansätze von Geschichten in die Arena, läßt eine Bärenfamilie eine Menschenfaimilie mit ihren Problemen spielen. Gefühlsgesten kommen plötzlich in die Arena, menschliche Sentimentalitäten an Tieren, scha- blonierte Schicksale. Schuld daran sind wohl auch die Zedahehrttūck- fllme, die die Tiere sinnlos vermenschlicht haben. Wenn aber der Zirkus das nachahmt und weiter nachahmen wird, wird er bald wohl oder übel menschliche Gesellschaftsformen an dressierten Tieren nachahmen und schließlich sogar bejahen oder verneinen lassen.

Die Zeit des Zirkus ist nicht ganz vorbei, denn es gibt die Spaßmacher noch. Über sie müßte man mehr reden. Bei ihnen ist das Mißgeschick, das an allen anderen Handlungen im Zirkus so peinlich ist, in die Handlung eingeplant. Das Mißgeschick des Spaßmachers, der mit keinem Gegenstand zurechtkommt, dem jeder Gegenstand im Weg ist, der, obwohl er jeden Gegenstand beherrschen möchte, von jedem Gegenstand untergekriegt wird, ironisiert wieder alle Peinlichkeiten, die bei den ernsthaften Dressuren der Objekte geschehen, so daß man sie im nachhinein auch ertragen bann. Auch der Spaßmacher hat versucht, die Gegenstände zu beherrschen, ernsthaft, sonst könnte er sein Scheitern nicht spielen. Aus der Spannung zwischen der gelernten ernsthaften Beherrschung der Gegenstände und der von ihm selber gewollten Ungeschicklichkeit entsteht seine Anmut. Sein Mißgeschick ist nicht peinlich, sondern komisch. Peinlich ist es schon eher, wenn ihm einmal ungewollt die Beherrschung der Gegenstände gelingt. Der Anblick eines Spaßmachers, der nicht über den Schemel stolpert, der sich ungehindert auf den Sessel setzen kann, der den Rauch wirklich aus dem Mund blasen kann, ist peinlich.

Aus „Protokolle 71“

Die einen sind zum Lieben geschaffen, die anderen zum Leben.

Albert Camus

Ist nicht die Möglichkeit schon ein verwirrendes Erlebnis?

Thomas Mann

Nichts übt auf mich eine so große Anziehungskraft aus wie die Klarheit. Aber ich gebe zu, daß ich sie nirgends finde. Die Dunkelheiten, die man mir zuschreibt, sind gering und recht durchsichtig, gemessen an jenen Dunkelheiten, die ich rings um mich entdecke. Glücklich jene anderen, die übereingekommen sind, daß sie sich untereinander vorbehaltlos verstehen! Paul Valėry

Um in jedem Augenblick so frei wie möglich zu sein, braucht es viel Ordnung. Die Unordnung macht uns zu Sklaven. Die Unordnung von heute belastet die Freiheit von morgen. H. F. Amiel

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